Vier Arten, die Liebe zu vergessen
oder Bristol rötete sich der Himmel.
Als Michael im Bett lag, hörte er Möwengeschrei, und zusammen mit
der Müdigkeit überwältigte ihn das Gefühl, angekommen zu sein. Alles würde sich
klären. Irgendwie. Wenn er nur erst mal geschlafen hätte. Er schloss die Augen
und sank fast augenblicklich in eine warme, wohlriechende, wolkige Tiefe.
~
WAGNER erwachte vom Gesang
einer Nachtigall. Zuerst dachte er, das träume er nur, aber dann stand er auf,
ging zum Fenster und hörte der virtuosen Melodie zu, die sich leider entfernte
und überdies ohne Antwort blieb. Dass er ihr selbst antworten konnte, kam ihm
nicht in den Sinn â er lauschte, solange es ging. Wann hatte er das zum letzten
Mal gehört?
Einen Moment lang war er versucht, jemanden zu wecken, um dieses
kleine Wunder zu teilen, aber dafür wäre eigentlich nur Michael infrage
gekommen, und der war nicht mehr da. Er hatte nicht mal gesagt, wohin er so
eilig fuhr. Thomas war betrunken wie immer, und Bernd lag mit dieser Frau im
Bett.
Irgendwie war das wie ein kleiner Diebstahl oder eine Untreue
gegenüber Michael, dass Bernd seine Eroberung hierhergebracht hatte. Wagner
hatte spätnachts ihre Schritte gehört, Bernds quietschende Turnschuhe und das
Klacken der Absätze dieser Frau. Wenn es überhaupt dieselbe war.
Nicht mein Problem, dachte Wagner, soll er machen, wie er will, aber
auf eine ungute Art wischte Bernd mit seinem Benehmen alles beiseite, was die
letzten beiden Tage hier so angenehm gemacht hatte: das Gefühl, sich unter
Freunden zu bewegen (selbst wenn einem übers Maul gefahren wurde), sein zu
dürfen, wie man eben war, eine Art erholsamer Rückkehr zu den eigenen Anfängen,
eine Reminiszenz an die Zeit, in der zwar nichts einfacher und in der man nicht
glücklicher gewesen war als heute, aber den Horizont noch als VerheiÃung
gesehen hatte. Und zu viert war, nicht allein.
Die Nachbarin hatte den Männerbund nicht gesprengt, sie hatte ihn
bestätigt, durch ihre nette und begeisterte Art sogar zu etwas Sympathischem
erklärt â diese Zufallsbekanntschaft von Bernd jedoch sprengte ihn. Wagner
überlegte sich, schon an diesem Tag nach Hause zu fahren. Was sollte er noch
hier.
Den Weg zum Bahnhof zu Fuà hatte er sich in der Karte angestrichen.
Eines dieser grauenhaft schwankenden Boote würde er nicht mehr betreten. Zum
Glück hatten die anderen nicht bemerkt, wie ihm der Schweià übers garantiert
kalkweiÃe Gesicht gelaufen war auf dieser grässlichen Gondel und diesem
grässlichen Boot vom Bahnhof hierher. Wenn er sich auf instabilem Untergrund
wusste, füllte sich sein Kopf mit heiÃem Brei, sein Atem wurde kurz, und das
Bild vor seinen Augen verschwamm â in solchen Momenten konnte er nur sein
Gesicht verbergen.
Der Abend mit Thomas war eine Tortur gewesen, anstrengend und
gleichzeitig langweilig. Thomas hatte dagesessen, breit und laut wie ein blöder
reicher Angeber, hatte den Kellner schikaniert, ihn andauernd hergewinkt, mit
Fragen auf Englisch und Spanisch belästigt, sich zweimal beim Bestellen anders
entschlossen und alles in allem den groÃen Maxe gemacht, der selbstverständlich
vom Personal verwöhnt werden muss. Es war einfach saupeinlich gewesen.
Eine irgendwie erträgliche Unterhaltung hatte sich auch nicht
zustande bringen lassen â ein bisschen lästern über Bernd, ein bisschen rätseln
über die Frau, die Michael abgeholt hatte, dann war die Luft schon drauÃen
gewesen, und sie hatten die meiste Zeit den Passanten auf dem Platz
hinterhergeschaut. Wagner hielt sich an einem Bier fest, und Thomas leerte
wieder das Zeug in sich rein, dass man kaum mit Zählen hinterherkam. Auf dem
Heimweg machte er Schlenker und Kurven, sodass Wagner zur Sicherheit immer an
der Wasserseite gehen musste, damit der plumpe, besoffene, dröhnende Mann nicht
hineinfiel.
Wagner wurde auf einmal klar, dass das alles ohne Michael nichts
war. Nur mit ihm hatte das Quartett eine Verbindung untereinander, und nur wenn
er dabei war, hielt man es mit den anderen aus. Michael war ihre Seele. Das
hatte Wagner früher nicht bemerkt, wie auch, sie waren ja immer zu viert
gewesen, aber jetzt fehlte mit Michael nicht etwa ein Teil ihrer Freundschaft, sondern
alles.
Vielleicht war das auch voreilig, ein verfrühter Schluss aus
Frustration über einen deprimierenden Abend, vielleicht wäre dieser Abend
zusammen mit Bernd
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