Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
ihre geschiedenen Eltern haben sich damals tierisch gezofft.«
»Das mit den Eltern wusste ich nicht«, sagte Selina.
»War schlimm. Christoph hat nicht rumgeheult oder so, aber gut möglich, dass er deswegen mit dem Testament angefangen hat. Er mochte sie.«
»Mir hat er gesagt, er will damit rausfinden, wer und was ihm etwas bedeutet. Was er beim Verteilen vergaß, war überflüssiger Besitz. Und wen er vergaß, mit dem verband ihn nichts, keine Erinnerung, und das war kein echter Freund. Hartes Urteil, aber … so hat er das gesehen.« Selinas Stimme zitterte leicht, doch sie sprach weiter. »Wenn man so lebt, als könnte jeder Tag der letzte sein, dann ist der letzte Wille wichtig, weil es ja der entscheidende Wille ist, der an diesem Tag, in diesem Augenblick gültige, hat er immer gesagt. Und dass ein Testament einem hilft, intensiver zu leben, weil man sich klarmacht, was von einem bleibt, wer einem bleibt und weil man merkt, wie man selbst in Erinnerung bleiben will. Wenn das nicht mit dem Leben übereinstimmt, lebt man falsch. Und das wollte er nicht erst mit achtzig feststellen.«
Nun kaute Maik auf seiner Lippe herum. Lena hatte die Arme verschränkt; das ließ ihre Brüste größer wirken, und ich musste einfach hinsehen, ein, zwei Sekunden. Dass Lena und Maik nichts von dem Testament gewusst hatten, hieß, dass sie nichts bekommen hatten. Und nach Selinas Worten, dass sie ihm nichts bedeutet hatten.
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass auch ich nichts bekommen hatte. Nach seinem Tod hatte ich nicht an das Testament gedacht, es war für mich immer ein Spiel gewesen, hatte nichts mit einem wirklichen Tod zu tun.
»Was hast du gekriegt?«, fragte ich Selina.
»Nichts.«
»Nichts? Aber …«
»Seine Mutter sagte, ich soll einfach das T-Shirt behalten, das ich mir gerade von ihm geliehen hatte. Da sei man sicher, dass er es mir hatte geben wollen, das Testament wäre ein Witz, und bestimmt hätte ich ihm das eingeflüstert. Vor Gericht würden sie bestreiten, dass es überhaupt existiert.«
»Arschlöcher«, sagte ich, nicht ganz so leise wie sie vorhin.
»Pst. Die Schwerdtfeger«, zischte Maik, aber keiner lachte.
»Halt die Klappe!«, zischte ich.
»Ja, sorry. Aber wollt ihr das wirklich auf sich beruhen lassen? Sein Testament, sein letzter Wille?« Maik wirkte aufgekratzt. »Wir fahren rüber zu ihm und steigen da ein, suchen das Testament, klauen alles, was drinsteht, und verteilen es an die richtigen Leute.«
»Weißt du, wie man einsteigt?«, fragte ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, wo die Eltern das Testament versteckt haben konnten.
Lena schürzte die Lippen, aber ich glaubte, sie war nicht gegen den Einbruch, sie war nur unsicher, was im Testament zu ihr stehen würde. Stand sie drin?
»Das sind nur Dinge«, sagte Selina. »Andenken für uns. Das ist derselbe verdammte Egoismus wie bei seinen Eltern. Am Wichtigsten war ihm die Seebestattung. Die hätten wir ihm verschaffen sollen, nicht jetzt nachträglich sein Zimmer plündern!«
»Hätte, hätte, Fahrradkette«, blaffte Maik. »Ich wusste nichts von dem Testament und der Seebestattung. Das hättest du machen müssen. Du und Jan! Nicht wir!«
»Ich weiß! Ich hab mir das schon hundertmal vorgeworfen. Aber jetzt ist es zu spät!« Selina wirkte, als würde sie gleich zusammenbrechen.
Also sagte ich nicht noch mal, dass ich von der Seebestattung nichts gewusst hatte. Außerdem hätte ich es wissen können, wenn ich Christoph nur lang genug gelöchert hätte – aber wie hätte ich ernsthaft an seinen Tod denken können? Die Idee mit dem Testament hatte ich nur cool gefunden, so cool, dass ich es mit vierzehn an Silvester auch versucht hatte. Ich hatte dies und das und jenes an meine Freunde verteilt, meiner Schwester mein Zimmer überlassen und meine Eltern ignoriert. Sie hatten mich damals nicht zu einer Party gelassen und würden eh alles bekommen, das ich aufzuzählen vergaß, und das war immer noch das meiste. Im folgenden Jahr wusste ich nicht mehr, in welcher Schublade ich das Testament verwahrt hatte, um es mir anzusehen, und kam im ganzen Feiertrubel auch nicht mehr dazu, ein neues zu schreiben. Irgendwo staubt es jetzt vor sich hin.
»Wieso ist es jetzt zu spät?«, fragte Lena.
»Wieso?«, äffte Selina sie nach. »Na, weil die Beerdigung vorbei ist! Das lässt sich nicht mehr ändern! Oder kannst du zeitreisen?«
»Lässt es sich nicht, oder bist du einfach nur zu feige?« Lena stierte sie herausfordernd
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