Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
drückte es an den Zehen.
»Schick«, sagte Selina.
»Danke«, sagte ich zu Maik und setzte mir seinen Rucksack auf, weil er nicht konnte, denn Selina saß hinter ihm.
Wir fuhren zu Lena. Sie wohnte im ersten Stock einer Hausnummer vier. Die vier war meine Lieblingszahl, vier Jahreszeiten, vier Himmelsrichtungen, und ich war um 4:04 Uhr geboren.
»Der geborene Frühaufsteher«, sagte mein Vater immer neckend, wenn ich müde am Frühstückstisch saß.
»Nachtmensch«, hatte ich immer behauptet, um länger aufbleiben zu dürfen.
In die Wohnung konnten wir wegen Lenas Mutter nicht, also sammelten wir alles Nützliche aus Garage und Keller zusammen. Unter anderem fanden wir zwei Schlafsäcke und eine Decke, eine eingerissene Isomatte und den Helm, für den wir gekommen waren. Er war schwarz und mit einem offenen Gehirn verziert.
»Besser ein gemaltes als gar keins«, sagte Maik, und ich zeigte ihm den Finger.
»Da spricht wohl einer aus Erfahrung.«
»Psst«, machte Selina.
Wir hielten die Klappe und gingen zu den Maschinen auf der Straße zurück. Nach der Aktion bei Maik schien es fast zu leicht, niemand musste durch Hecken oder auf einen Balkon klettern.
»Typisch Mädchen«, brummte Maik. »Die wählen immer den bequemen Weg.«
»Den intelligenten«, entgegnete Lena, ohne das Gesicht zu verziehen, und für einen Moment konnte Selina ein Lächeln nicht unterdrücken.
Wir schnürten alles auf die Gepäckträger oder stopften es in den Rucksack und die Satteltasche, in der sich keine Asche befand. Lena steckte auch eine ausrangierte Jeans ein, doch sie behielt den kurzen Rock an, als wäre das wichtig.
Bei Selina konnten wir nichts holen, ihre Eltern würden uns zu leicht bemerken, sagte sie. Sie setzte sich hinten bei Maik auf die Maschine und ich bei Lena.
»Halt dich an mir fest, nicht am Gepäckträger«, sagte Lena, während sie mir zeigte, wie ich den Kinnriemen des Helms schließen musste. »Das ist einfacher, um sich richtig in die Kurve zu legen.«
Also legte ich meine Hände vorsichtig auf ihre Hüften, und wir brausten in Richtung Westen davon, wo das Meer auf uns wartete.
14
Ich hatte eiskalte Knie, als wir die erste Pause einlegten. Der Morgen deutete sich bereits am Himmel an, die letzten Sterne verblassten, und aus der Schwärze schälte sich Blau. Als ich den Helm abnahm, konnte ich die ersten Vögel zwitschern hören. Wir hatten uns mithilfe von Maiks Smartphone orientiert, eine Landstraße nach der anderen Richtung Westen genommen und immer wieder kurz angehalten, wenn er sich vergewissern musste, dass wir noch richtig waren.
Nun standen wir auf dem verlassenen Parkplatz zu einem Waldlehrpfad irgendwo hinter Biberach. Er zweigte nach einer lang gezogenen Kurve von der Straße ab, direkt vor einer kleinen Erhöhung, und war so unscheinbar und langweilig, wie es solche Parkplätze eben sind. Nachlässig gekiest, sodass die meisten Steine bereits in die Erde gedrückt worden waren, und durch ein einfaches Holzgeländer vom Wald getrennt. Er war groß genug für etwa fünfzehn Autos und um einem Bus Platz zum Wenden zu bieten, falls eine Schulklasse hergekarrt wurde. Es gab zwei Bänke, deren Sitzfläche aus dem längs halbierten Stück eines Baumstamms bestand, und mehrere große, mit Holzlatten verkleidete Mülltonnen mit grünen Deckeln. Wo der Pfad in den Wald führte, standen mehrere Buchen und zwei große Infotafeln mit schmalem Zierdach.
»Alles okay?«, fragte Lena, als ich abgestiegen war.
»Alles bestens«, sagte ich und riss mir die Gummistiefel von den Füßen. Die Zehen fühlten sich zerquetscht an, aber wenigstens nicht durchgefroren wie die Knie. Ich stakste wie ein altersschwacher Reiher umher, weil ich die Beine nicht richtig bewegen konnte. Laut zu jammern ließ mein Stolz nicht zu, Lenas Knie waren mit der dünnen Strumpfhose kaum besser geschützt gewesen als meine, und sie bockte den Roller ohne Klagen auf.
»Kalt?« Maik lachte, als er mich sah. Seine Jacke hatte er Selina geliehen, die auch Jeans trug und natürlich nicht fror.
»Geht schon«, brummte ich. Im Stehen ging es, nur der Fahrtwind fraß sich in die reglosen Gelenke. Der erdige Boden unter meinen nackten Fußsohlen war kühl und feucht vom Morgentau, die runden Kiesel spürte ich kaum. »Eher hungrig.«
Hunger hatten wir alle, doch keiner hatte etwas zu essen eingesteckt, das lagerte nicht in Garagen, Kellern und Schlafzimmern. Wir zählten unser Geld, obwohl weit und breit kein Supermarkt zu sehen
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