Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
gedrehte. Wir waren in Frankreich, und aus einem Augsburger Café kannte ich noch von früher das Existenzialisten-Frühstück : ein großer Kaffee, schwarz, und dazu eine filterlose Zigarette. Nach Kinobesuchen waren Christoph und ich manchmal dort gewesen, und seit dem Rauchverbot gab es dieses Frühstück natürlich nicht mehr. Trotzdem dachte ich bei Frankreich und Frühstück noch immer erst an Croissants und dann daran. Auch wenn es längst Nachmittag war, Frankreich war für mich das Land der Raucher.
Ich hatte Der Fremde des Existenzialisten Albert Camus gelesen, aber trotzdem nicht verstanden, was Existenzialismus war. Ich hatte nur begriffen, wie wenig es manchmal braucht, um einen anderen Menschen zu töten.
Ich fragte: »Hat jemand Tabak dabei?«
Niemand hatte.
»Das letzte Dorf ist einen halben Kilometer zurück«, sagte Lena. »Da gibt es bestimmt …«
»Kein Geld«, unterbrach ich sie. »Benzin geht vor.«
Sie nickte. »Tanken müssen wir auch bald.«
Ich riss die Tüte mit den Gummibärchen auf, nahm eine Handvoll und kaute lange auf jedem einzelnen herum. Es fühlte sich ganz und gar nicht existenzialistisch an.
Im Schutz ihres Rollers zog Lena die Strumpfhose zum Trocknen aus, und ich schaute nicht in ihre Richtung, nicht einmal aus dem Augenwinkel. Als sie sich wieder setzte, achtete sie genau darauf, dass man ihr nicht unter den Rock sehen konnte. Wir aßen das Eis und die Kekse auf und waren pappsatt.
Und dann klingelte Selinas Handy.
»Ja?« Schon bei diesem Wort konnte man erkennen, dass es ihre Mutter war. Die Stimme wurde ein wenig leiser, der Kopf sackte ein Stück nach vorn.
(…)
»Ich bin nicht allein.« Sie erhob sich und ging zwei Schritte zur Seite, aber falls wir sie nicht mehr hören sollten, war es nicht weit genug.
(…)
»Sie ist kein schlechter Einfluss.«
(…)
»Dann bin ich halt in Frankreich. Ja und?« Selina hob den Kopf und die Stimme. Sie hatte rote Flecken auf den Wangen und wurde lauter. »Ich hab dich belogen, weil du die Wahrheit nicht hören willst. Weil du mir immer alles verbietest, ohne zuzuhören!«
(…)
»Das kann ich dir nicht sagen!«
(…)
»Mir egal, dass sich das widerspricht! Aber was ich hier tu, tu ich für Christoph. Und ich muss es tun, das muss dir als Antwort reichen. Er hat es sich gewünscht.«
(…)
»Du hast ihn nie leiden können, und Papa noch viel weniger. Euch war er doch immer egal!«
(…)
»Beschützen?« Sie lachte. »Ich bin siebzehn, Mama! Siebzehn!«
(…)
»Nein, ich bin vernünftig. Und genau deshalb komme ich nicht zurück! Und du solltest mir nie wieder nachspionieren!«
(…)
»Doch! Das ist Spionieren!«
(…)
»Soll er doch anrufen! Ich geh nicht ran! Ich schmeiß das verdammte Ding weg! Dann seht mal zu, wie ihr mich findet!« Wütend beendete sie das Gespräch und drehte sich zu uns um. Sie atmete schwer und zitterte.
»Was ist los?«, fragte ich, obwohl wir es alle gehört hatten.
»Meine Mutter. Tut mir leid, wir müssen los.«
»Sofort?«
»Sie haben mein Handy geortet. Ich trau ihnen zu, dass sie irgendwen anrufen, vielleicht die französische Polizei oder einen Privatdetektiv.«
Ich bezweifelte, dass eine deutsche Mutter mal eben französische Polizisten herumkommandieren konnte, aber sicher war ich nicht. Ich stand auf.
»Dann muss es gehen.« Auch Maik erhob sich, und Selina zog sich hastig den Gürtel aus der Hose.
»Au ja«, tönte Maik. »Auch wenn wir’s eilig haben, so viel Zeit ist immer.«
»Idiot. Gib mir deinen Arm.« Sie wickelte den Gürtel um sein Handgelenk, um es grob zu stabilisieren. Dann öffnete sie ihr Handy, nahm die SIM-Karte raus und steckte beides in unterschiedliche Taschen. Das war fast so gut wie wegwerfen.
»Bei nächster Gelegenheit klauen wir uns Kippen«, sagte sie. »Jetzt könnte ich auch eine brauchen.«
26
Wir suchten uns eine Tankstelle am Rande irgendeiner Kleinstadt. Noch immer vermieden wir alle größeren Städte, so als müssten wir uns verborgen halten, als wären wir auf der Flucht oder Undercover. Wir hatten unsere Eltern belogen und Freunde im Ungewissen gelassen, wo wir steckten. Nur Selina hatte eben ihre Mutter angeschrien: »Das tue ich für Christoph!«
Sie hatte nicht gesagt, was genau sie tat, und doch nagte es an mir. Im Geheimen gegen alle zu handeln, hatte anfangs etwas gehabt: wir gegen die Welt. Gleichzeitig wirkte es, als würden wir die Freundschaft zu Christoph im Verborgenen abhandeln. Erzählen, dass wir seine Asche
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