Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
dann fuhr ich langsam hundert Meter am Bach entlang, wendete in der angrenzenden Wiese und rollte etwas schneller zurück, um neben den anderen eine fette Bremsung hinzulegen. Statt zu bremsen, gab ich versehentlich Gas. Röhrend raste ich an ihnen vorbei und direkt auf den Brückensockel aus Beton zu. Wie zur Hölle bremste man? Ich dachte nicht daran, das Gas loszulassen, sondern klammerte mich an den Lenker und riss ihn nach rechts und links und wand mich so um den Sockel. Staub wirbelte auf, und ich bretterte auf der schmalen steinigen Spur zwischen Wasser und Beton unter der Brücke hindurch. Drüben schoss ich aus dem Schatten in die Sonne und brachte das Gefährt endlich zum Stehen. Keuchend saß ich auf dem Sitz, mein Herz schlug wild, die zitternden Füße hatte ich rechts und links auf den Boden gesetzt. Ich hörte, wie Maik hinter mir jubelte und pfiff, Selina schrie: »Spinnst du?«
Ich hob die Arme zur Siegerpose und ließ sie in dem Glauben, es wäre Absicht gewesen. Wenn ich fahren lernte, müsste ich nicht mehr hinter Lena sitzen. Dann würde sich Selina an mir festhalten – das war okay, die Sache in der Kiesgrube Vergangenheit. Und Maik würde seine Hände auf Lenas Hüften legen, nicht auf den Gepäckträger, und das gefiel mir überhaupt nicht. Nein, ich würde nicht fahren. Langsam wendete ich und tuckerte zurück.
»Da kommt der neue Valentino Rossi«, rief Maik.
»Wer?«
»Du kennst Rossi nicht? Der beste Motorradfahrer der Welt!«
»Ich schau keinen Motorsport.«
»Das sah grad ganz anders aus.« Maik lachte.
»Machen und schauen ist ein Unterschied.« Ich grinste, noch immer war mein Puls viel zu hoch und ich voller Adrenalin.
»Dann willst du Rennfahrer werden?«
»Was? Nein. Ich will Mathe studieren.«
Alle drei stöhnten auf.
»Und was machst du damit?«, fragte Maik. »Mathelehrer werden?«
»Bloß nicht. Ich red doch nicht den ganzen Tag vor Leuten, von denen es neunzig Prozent nicht interessiert. Zahlen sind einfach schön, das ist wie Philosophie. Wenn ich gut genug bin, bleib ich an der Uni. Ansonsten ist die ganze Welt voll Statistiken, da find ich schon einen Job.«
»Hätte ich nicht gedacht«, sagte Lena.
»Wieso? Was dachtest du, was ich mache?«
»Ich weiß nicht. Was mit Menschen, nicht mit Zahlen.«
Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte, aber es klang, als sei ich eben in ihrer Wertschätzung gesunken. »An der Uni hab ich auch mit Menschen zu tun. Ich sprech nicht nur mit Zahlen.«
»Ja, schon, aber …«
»Und was willst du machen?«, fragte ich sie.
»Als Kind wollte ich immer Zoodirektorin werden, später dann Sängerin. Aber wenn mich schon eine ungesignte Band feuert, welche Chancen hab ich da? Inzwischen mag ich lieber freie Tiere, vielleicht studier ich Meeresbiologie und erforsche Walgesänge.«
»Auch nicht wirklich was mit Menschen …«, murmelte ich. Aber ein Job, bei dem man rauskam und die Welt sah. Wie auch Christoph es gewollt hatte.
»Was?« Sie hatte mich nicht verstanden.
»Nichts.«
Nach einem kurzen Moment wandte sich Lena ab. »Und ihr? Was wollt ihr machen?«
»Ich will ein Jahr nach Amerika«, sagte Maik. »Skaten, wo die Größten geskatet sind.«
»Damit verschwendest du ein ganzes Jahr?«, fragte Selina.
»Das ist keine Verschwendung!«
»Aber wie willst du das bezahlen?«
Er verzog den Mund. »Macht mein Vater, wenn ich das Abi schaffe. Und danach studiere. Er hat total Schiss, dass ich mein Leben wegwerfe, weil ich mal gesagt habe, ich will Spieletester für Playstation werden.«
»Und willst du?«, fragte ich.
»Keine Ahnung. Ich will ein gutes Leben haben und auf keinen Fall Jura studieren. Vielleicht mach ich einen YouTube-Channel mit meinen Amerikaerlebnissen, skate an den verrücktesten Orten und so. Grand Canyon, Eisbärgehege im Zoo von L.A. und so was. Wenn ich damit Geld verdienen kann, schmeiß ich das Studium wieder.«
»Selina?«
»Ich würd gern was mit Fotografie machen, vielleicht auch Kunst studieren. Mangas zeichnen. Oder Goldschmiedin werden und eigenen Schmuck designen. Ohrringe, die aussehen wie zerdrückte Coladosen, eine Kette aus zerfallenen Blättern, Ringe, die aussehen, als hätten sie einen Riss oder würden gerade schmelzen.«
»Cool«, sagte Lena. »Da komm ich einkaufen.«
»Schon wächst der Kundenstamm.« Selina lächelte, aber ich wusste nicht, ob sie damit glücklich war.
Die Sonne wanderte weiter, und ich vermisste plötzlich eine Kippe, am besten eine starke selbst
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