Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
gut«, sagte Maik.
»Dann aber ganz sicher?«, fragte ich, obwohl ich nicht wollte, dass es wie eine Frage klang.
»Ganz sicher«, bestätigte Selina, und Lena nickte.
Ich erzählte von Ralphs Anruf. Wir wollten uns keine Sorgen wegen Christophs Mutter machen, darum lachten wir nur darüber.
»Die alte Pedantin hat die Blumen bestimmt ausgemessen und kontrolliert sie jeden Tag. Nicht dass sie anders wachsen, als sie gepflanzt wurden.«
»Die sieht auf keinen Fall darunter nach, ob was fehlt. Das macht zu viel Unordnung, das bringt die genau arrangierten Wurzeln durcheinander.«
Der Frosch war verstummt oder weitergehüpft, und als das Feuer niedergebrannt war, löschten wir die Glut mit Schlamm und Wasser aus dem Bach und legten uns hin. Ich lag auf dem Rücken und starrte in den Himmel. Ich konnte nicht schlafen und zählte die verglühenden Sternschnuppen, ohne mir etwas zu wünschen. Wolken wuchsen vor den Sternen und schluckten einen nach dem anderen.
Längst hatten die anderen aufgehört, sich hin und her zu drehen, sie atmeten ruhig. Leise schlüpfte ich aus dem Schlafsack und schlich die wenigen Schritte zum Roller hinüber. Ich klappte das Handschuhfach auf und griff nach meinem Beutel. Ich musste allein mit Christoph sein, mich von ihm verabschieden, bevor wir gemeinsam das Meer erreichten. Dafür war ich auf den Friedhof gekommen, und seitdem hatte es keinen Moment dafür gegeben. Nur ein winziges Stück wollte ich ihn mit mir in den Wald nehmen, nur so weit, bis ich mich nicht mehr beobachtet fühlte.
Der Atem der anderen ging noch immer regelmäßig.
Die Hand auf dem Plastik, zögerte ich. Wenn ich im Dunkeln stolperte und der Beutel fiel und sich öffnete, würden wir die Asche nicht ans Meer bringen können. Es wäre unmöglich, sie wieder einzusammeln, und er läge doch wieder unter Bäumen. Ich zog die Hand zurück, sank auf die Knie und fragte den Beutel in Gedanken: Warum?
Natürlich konnte Christoph mir nicht antworten, aber ich hoffte, er könnte mich wenigstens hören. Ich glaubte an nichts, und doch war er in diesem Moment irgendwie da.
Ich sagte ihm, wie sehr ich ihn vermisste, und dass ich nicht wusste, was ich tun sollte, dass alles aus dem Gleichgewicht war, dass mein Vater ständig von einem Zurück zur Normalität redete und ich jederzeit zurück wollte, an einen Punkt, an dem Christoph noch lebte. Ein anderes Zurück konnte doch keine Normalität sein.
Ich sagte ihm, dass es Selina dreckig ging, auch wenn er das bestimmt selbst gesehen hatte, falls er noch irgendwas wahrnehmen konnte. Aber ich wollte es trotzdem erwähnen, weil es wichtig war. Ich sagte, dass ich mich kaum traute, sie lange in den Arm zu nehmen, dass sie und ich uns nahe waren, dass der Schmerz uns irgendwie noch näher brachte, dass wir es aber nicht zuließen, nicht zu viel davon. Dass ich ihm das nie antun würde, und sie auch nicht, sie hatte immer ihn geliebt und nicht mich.
Ich sagte, dass ich nicht glaubte, dass er etwas mit Lena gehabt hatte, ich aber Angst davor hatte, was sie morgen erzählen würde. Dass ich ihm keine Vorwürfe machte, egal, was es war, aber ich es gern von ihm gehört hätte, wenn es denn überhaupt etwas zu hören gab. Dass es verständlich wäre, wenn man Lena so sah, hier, unterwegs, nicht in der Schule, wobei der Roller mit seinem Skelett einen ja von Anfang an misstrauisch hätte machen müssen, das war kein Roller einer Unscheinbaren, aber dass es überhaupt nicht verständlich war, wenn man Selina sah, wie sie vor dem Kreuz kniete und der Mutter trotzte, wie sie litt und sich aufrecht hielt, wie sie zu ihm hielt und kämpfte und … Meine Gedanken wurden wirrer und schneller und zahlreicher, und dann platzte einer hervor: Warum bist du betrunken gefahren?
Und auch wenn ich keine Antwort bekommen würde, drängte die nächste Frage hinterher und die nächste.
Warum ohne Licht?
Bist du Depp wirklich auf die andere Fahrbahn gekommen?
Hattest du Schuld am Unfall? Warst du es?
Weißt du, was du uns damit angetan hast?
Du warst mein Bruder, und du wirst es immer sein, und auf diese Weise werde ich dich immer lieben, auch wenn ich das niemals laut gesagt habe.
Warum hast du dich einfach totfahren lassen?
Einfach so!
Warum?
Blöder Depp!
Ich schloss die Augen, aber zu spät. Die ersten Tränen liefen bereits über mein Gesicht. Niemand sollte sie sehen. Ich lauschte auf den Atem der anderen, keiner schien wach zu sein. Doch sie waren so nah, ich fühlte mich beobachtet.
Weitere Kostenlose Bücher