Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
Einsam, weil sie schlafen konnten und ich nicht. Selina drehte sich auf die andere Seite, doch keiner wälzte sich in Albträumen. Lena lag stocksteif da wie auf einer Totenbahre. Maik schlief auf der Seite und seinem Unterarm, er schnaufte, als würde er gleich zu schnarchen beginnen.
Ich stand auf und ging den Waldweg entlang. Ich musste allein sein. Die Nacht war still. Stumm ließ ich die Tränen laufen und trocknen, ich wischte sie nicht fort. Die ersten tropften auf mein T-Shirt und den Boden.
Irgendwas huschte raschelnd durchs Unterholz, vielleicht ein Fuchs. Ich hoffte, dass es keine Bache mit Jungtieren war und dass es hier keine Wölfe gab, und dann war das Rascheln verschwunden. Nicht einmal ein sanftes Tapsen war mehr zu hören.
Ich zählte die Schritte, bis ich bei einhundertvierundzwanzig angekommen war, und dann ließ ich es sein. Es war sinnlos.
Nach einer Weile blieb ich stehen und dachte daran, zwischen die Bäume zu laufen, einmal quer durch den Wald und immer weiter, bis die Sonne aufging, und vielleicht noch weiter, bis ich nicht mehr konnte, bis die Beine zusammenklappten. Aber vielleicht klappte auch erst der Kopf zusammen, und ich würde ewig laufen, orientierungslos und innerlich leer. Ich würde nichts zurücklassen als einen Beutel Asche, vier Beutel, und die Asche würde sowieso so wenig bei mir bleiben, wie Christoph es getan hatte. Und wenn er sowieso meine Gedanken lesen konnte, dann war sie auch nicht wichtig. Und wenn er sie nicht lesen konnte, warum sollte die Asche es dann sein?
Warum bist du tot?
Wir hätten auch so ans Meer fahren können, beide am Leben, oder meinetwegen auch alle fünf.
Ich wollte mich zwischen den Bäumen verlaufen, weil ich mich danach fühlte. Trotzdem rührte ich mich nicht, lauschte auf den leisen Bach und schaute nach oben, wo dicht belaubte Äste über dem Weg fast den ganzen Himmel bedeckten. Vor dem Rest hingen Wolken. Ich konnte keinen einzigen Stern erkennen, es war einfach nur dunkel über mir, und so starrte ich in die Dunkelheit und atmete Stille ein.
Ein leichter Wind kam auf, ich spürte ihn kühl auf den Wangen, wo die Spuren der Tränen noch nicht ganz getrocknet waren. Frische Tränen kamen nicht mehr. Die Blätter um mich her raschelten, Zweige stießen aneinander.
Und dann hörte ich Schritte. Ganz leise kamen sie auf mich zu, und ich konnte einen Schemen erkennen, kleiner als ich und schon ganz nah. Warum konnte ich nicht einen Augenblick lang meine Ruhe haben?
Für einen verrückten Moment dachte ich, es wäre Fabienne, die da auf mich zukam, und dann erkannte ich Lena. Direkt vor mir blieb sie stehen.
»Was machst du hier?«, fragte ich, und meine Stimme war leise und rau.
»Ich wollte nicht allein sein.« Sie kam einen halben Schritt näher.
Und so standen wir uns in der Dunkelheit gegenüber, am selben Ort gelandet, obwohl wir das Gegenteil gewollt hatten, oder vielleicht wollten wir dasselbe und hatten nur andere Worte dafür.
Oder keine Worte.
»Hast du geweint?«, fragte sie.
»Ja«, gab ich zu und musste unwillkürlich lächeln, weil ich erst jetzt ihren Satz begriff. Sie war mir gefolgt.
Sie war mir so nah, dass wir uns fast berührten, Gesicht an Gesicht.
»Hattest du was mit ihm?«, fragte ich, die Lippen ganz nah an ihren, weil ich es wissen musste, weil ich nicht bis zum Morgen warten wollte.
»Nein«, flüsterte sie so leise, dass ich es kaum hören konnte, aber den Hauch des Wortes spürte ich.
»Nein?«, wiederholte ich überrascht, und plötzlich war es egal.
»Nein.«
Wir küssten uns.
Wir umschlangen uns und wankten, ich krallte mich in ihre Haare, meine Hände suchten Halt. Wir küssten verzweifelt, wie der Ertrinkende nach Luft schnappt, nur dass wir uns den Atem nahmen, mehr und immer mehr. Ich grapschte nach ihrer Brust, und sie nach meinem Glied.
»Hast du Gummis?«, fragte sie atemlos.
»Nein.«
»Scheiße.«
»Ja.«
Aber sie ließ mich nicht los. Wir gingen zu Boden, drückten uns gegenseitig in die kühle Erde und das Gras, und ich fühlte kein Nylon auf ihren Beinen, nur nackte Haut, und schob die Hand unter ihren Rock, ohne nachzudenken. Wir machten es uns gegenseitig, keuchend und ausgehungert, zu besessen, um unsicher zu sein. Bis wir zum Schluss fast schrien, weil wir allein waren und weil wir am Leben waren.
Nach Luft schnappend blieben wir liegen und ließen uns noch immer nicht los.
Sie hatte nichts mit Christoph gehabt.
Aber mit mir. Sie hätte mit mir geschlafen, wenn wir
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