Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
brauchte die meiste Luft zum Laufen.
»Selina!«
Sie stieg ein, ohne sich umzudrehen. Sie tat es schnell, als habe sie es eilig, fortzukommen.
»Nein!«
Der Motor heulte auf, und das Auto brauste davon.
Ich blieb stehen, hielt mir die Seite und keuchte den roten Lichtern eine kraftlose Verwünschung hinterher. Dann drehte ich um und raste zurück. Ich war stinksauer auf Selina. Wie konnte sie uns derart verraten, jetzt, nachdem wir so weit gekommen waren? Zugleich hatte ich Angst und beschimpfte sie, wie sie allein zu einem Fremden ins Auto steigen konnte. Als wäre ich meine Mutter. Oder ihre.
Das Auto hatte den Kavalierstart eines Machos hingelegt, und wenn sich Selina fühlte wie ich, wie Lena, dann hätte sie ihm nichts entgegenzusetzen, wenn er in einen Waldweg abbog. Dann würde sie nach jeder Nähe greifen, die sie kriegen konnte.
Das durfte sie nicht, nicht wenn sie Christophs Asche dabeihatte. Das durfte sie ihm nicht antun! Und das würde sie nicht, nicht freiwillig. Aber ich wusste nicht, was der fremde Fahrer tun würde. Sie war zu schön und allein, um nicht angegraben zu werden, und hoffentlich verstand er ein »Nein!«
Verzweifelt stürmte ich weiter. Ich hatte den Fahrer nicht erkennen können, aber ich war überzeugt, dass es ein Mann war.
»Maik!«, schrie ich, als ich bei unseren Schlafsäcken angekommen war. »Lena!«
Ich schrie, dass mir die Lunge schmerzte, doch niemand antwortete.
»Lena! Maik!«
Das Laub raschelte im Wind.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich sie finden sollte, und keine Zeit für eine Suche. Noch immer spürte ich den Wein in meinem Kopf, und ich fühlte mich stark, weil Lena zu mir gekommen war. Ich riss den Kein-Kind-mit-doofem-Namen-an-Bord -Aufkleber aus meiner Tasche, klebte ihn auf den Sitz des Rollers und kritzelte darauf:
Selina ist weggetrampt! Ich hinterher! Komme wieder.
Ich setzte den Hirnhelm auf und sprang auf Maiks Maschine. Einen Meter hopste ich nach vorn, bevor ich den Motor abwürgte. Beim nächsten Versuch schaffte ich drei. Ich schlug auf den Lenker, so würde ich sie nicht einholen.
»Konzentrier dich!«
Endlich brachte ich die Karre zum Laufen und ruckelte über den Waldweg zur Straße vor. Nachts war kaum Verkehr, da war das Fahren kein Problem, redete ich mir ein, und bog eiernd und ohne zu blinken in die Straße. Ich erinnerte mich nicht, wo der Blinker war.
Es begann zu regnen.
Und ich lachte, weil ich sonst nichts tun konnte. Der Asphalt wurde nass und rutschig, ich war angetrunken und hatte keine Ahnung vom Fahren. Weshalb kam immer alles zusammen?
Murphy’s Law.
Ich gab Gas, scheiß auf Murphy und Gesetze! Ich musste Selina finden, bevor es zu spät war. Bevor ihr etwas passiert war oder sie etwas tat, das sie danach nur bereute. Bevor sie zu weit weg war, hinter zu vielen Kreuzungen, bei denen ich die richtige Richtung nicht kannte.
Wassertropfen klatschten gegen mein Visier, das Scheinwerferlicht zersplitterte an ihnen und verwandelte sich in herabsinkende Sterne. Ein nasses Nachäffen von Sternschnuppen auf Plastik, und ich wünschte, ich würde nicht stürzen. Der Himmel war dunkel und leer.
In jeder Kurve bremste ich ab, ich konnte nicht abschätzen, wie schnell ich sein durfte. Meine Finger verkrampften, so fest umklammerten sie den Lenker.
Rechts führte ein ausgefahrener Kiesweg zwischen die Bäume, und ich hielt an. Ich drehte den Scheinwerfer und sah hinein. Ein Fuchs huschte mit glimmenden Augen davon, kein parkendes Auto weit und breit. Würde der Kerl ihr etwas tun wollen, würde er nicht so nah an der Straße halten, nicht da, wo man noch Schreie hören konnte. Sie würde sich wehren. Selina war stolz und stark, sobald er abbog, würde sie sich wehren, ganz bestimmt. Sie würde ihm ins Lenkrad greifen und den Wagen an den nächsten Baum setzen.
Ich fuhr weiter, ich konnte nicht jede Abzweigung kontrollieren, es gab einfach zu viele. Die meisten Autofahrer waren keine Vergewaltiger, ich durfte mich hier nicht in etwas hineinsteigern.
Und warum rast du dann betrunken durch die Nacht?
Ich bin höchstens angetrunken , redete ich mir ein, und ich hatte keinen Führerschein, den man mir abnehmen konnte. Was spielte es also für eine Rolle, ob ich mich an die Regeln hielt? Sollten sie doch versuchen, mich zu bestrafen!
Ich wusste nicht, wohin Selina wollte, doch es war unwahrscheinlich, dass irgendein nächtliches Auto bis ans Meer fuhr. Die meisten wollten immer nur zwei, drei Dörfer weiter, und dann würde sie
Weitere Kostenlose Bücher