Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
erneut mit erhobenem Daumen am Straßenrand stehen. Das war meine Chance, ich musste sie erwischen, bevor sie vom Nächsten mitgenommen wurde.
Große Tropfen klatschten immer dichter herab, durchnässten mich. Auch wenn es warmer Sommerregen war, fror ich im Wind an den nackten Knien und unter dem dünnen T-Shirt, das schwer und nass auf meiner Haut klebte. Das Trommeln auf dem Helm klang dumpf.
Warum hatte ich nicht zwanzig Sekunden schneller an der Straße sein können? Dann hätte ich Selina erreicht, bevor sie eingestiegen wäre.
Der Wald endete, die Straße führte zwischen Feldern und Wiesen hindurch auf ein Dorf zu, dessen Laternen nur gedämpft leuchteten. In keinem der Fenster brannte noch Licht. Nirgends waren rote Rückleuchten zu sehen, das Auto war längst fort, und vermutlich führte mehr als eine Straße aus dem Dorf hinaus. Verzweifelt beschleunigte ich auf dreiundachtzig Stundenkilometer, mehr konnte ich aus dem Motor nicht herausholen.
Vier Leitpfosten vom Dorfschild entfernt wuchsen links drei Tannen am Straßenrand, groß und dunkel und alt wie die, unter denen Christophs Grab lag. Hier kauerte unter ihnen eine schlichte Bank aus Holz und auf ihr Selina. Sie hatte den Beutel fest an ihren Körper gepresst und sich darübergebeugt, die Asche zum Schutz vor dem Regen unter sich begraben. Die blonden Haare hingen ihr nass ins Gesicht.
Ich legte eine Vollbremsung hin, die Maschine kam ins Schlittern und brach beinahe aus. Mit aller Kraft umklammerte ich den Lenker und hielt instinktiv dagegen oder eher mit dem sprichwörtlichen Glück der Betrunkenen, auch wenn ich so dicht gar nicht war. Und vielleicht war mein Glück deshalb auch beschränkt, denn als ich bei den ersten Häusern zum Stehen kam, hatte ich die Füße zu spät am Boden, und die Maschine kippte seitwärts um. Ganz langsam, aber ich konnte sie nicht halten. Ich konnte sie auch nicht liegen lassen, wuchtete sie mühsam hoch und bockte sie am Ende des Fußwegs auf. Ich riss den Schlüssel aus dem Zündschloss und spurtete zu Selina. Sie hatte sich nicht gerührt.
»Selina!« Ich ging vor ihr in die Hocke.
Sie sah mich an, und ich konnte nicht erkennen, was in ihrem Gesicht Tränen, was Regen war. Nur trocken war es nicht.
»Was hat er dir getan?«
»Wer?«
»Der Kerl! Der Kerl im Auto!«
»Nichts.«
»Was?«
»Nichts.«
Erst, als sie es zum zweiten Mal sagte, begriff ich es. Und ich begriff, dass ich sie gegen jede Wahrscheinlichkeit gefunden hatte und plumpste lachend vor ihr auf die Knie und kämpfte mich aus dem Helm.
»Du kannst gar nicht fahren«, sagte Selina, die sich noch immer über die Asche beugte.
»Das stimmt.« Gerade wenn man an mein Bremsmanöver dachte. »Und wie das stimmt.«
»Warum fährst du dann …?«
»Ich hab dich gesucht. Ich hab dich wegfahren sehen und gebrüllt wie ein Verrückter, aber du hast mich nicht gehört.«
»Doch«, sagte sie leise.
»Doch? Und du bist eingestiegen.«
Sie nickte.
In mir stieg Wut auf, weil sie abgehauen war, Wut, die auch nicht von dem jämmerlichen Anblick gemildert wurde, den sie bot. »Und warum haust du einfach ab? Lässt uns allein zurück?«
Sie sah mich traurig an und biss sich auf die Lippe.
»Warum?«, schrie ich.
»Und du?«, fragte sie. »Warum hast du das gemacht?«
»Was?«
»Mit Lena.«
»Lena?« Alle Wut war verschwunden. Ich fühlte mich ertappt, obwohl ich nicht wusste, warum.
»Ich hab euch gehört. Der Wald war so still, ich konnte euch stöhnen hören.« Ihre Stimme zitterte, aber sie wurde mit jedem Wort lauter, anklagend. »Wie kannst du mir das antun? Maik ist verrückt, und sie will mir Christoph nehmen, oder hat es sogar, was weiß denn ich? Du warst der Einzige, der … Ich dachte immer, dass … Verdammt, Jan! Mit ihr! Nach Christoph auch du. Warum?«
»Sie hatte nichts mit Christoph«, sagte ich lahm.
»Woher willst du das wissen? Hat sie dir das gesagt, bevor sie dich bestiegen hat! Es dir leise ins Ohr gesäuselt, das kleine, unschuldige Ding?«
»Ja.«
»Und das glaubst du? Einfach so? Ihr Männer seid so bescheuert!«
»Ja.«
Ihre Lippen zitterten.
»Ich weiß, dass es stimmt«, sagte ich.
»Das macht es nicht besser!«, schrie sie und begann zu weinen, weil es eben doch alles änderte, weil es ihre Angst nahm, Christoph habe sie betrogen. »Das ist doch kein Grund, der für sie spricht. Warum hast du es mit ihr gemacht?«
»Du bist Christophs Freundin«, sagte ich, und das war eine seltsame Antwort, aber in dem
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