Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Vier minus drei

Titel: Vier minus drei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Pachl-Eberhart
Vom Netzwerk:
mich danach sehnte, gestreichelt und umsorgt zu werden.
    Es hätte dem Bild so schön entsprochen, das wir uns vom Trösten machen.
    Dir geht es schlecht, du weinst, ich nehme dich in den Arm, und dann ist alles wieder gut.
    Bei unseren Kindern funktioniert das. Auch wir selbst haben schon erlebt, wie es ist, sich auszuheulen, wir kennen die Situation von beiden Seiten.

    Doch der Schmerz über den Tod meiner Familie wollte sich leider gar nicht an gewohnte Vorstellungen und Erwartungen halten. Die Menschen, die mich in der Zeit tiefster Trauer begleiteten, waren von meiner scheinbaren Stärke immer wieder verunsichert.
    Sie wollten wissen, wie es mir geht, und bekamen keine Antwort. Sie sehnten sich nach meinen Tränen und wurden ihre Taschentücher nicht los.
    Doch sie waren nicht da, wenn der Schmerz mich übermannte, und der Schmerz übermannte mich dann, wenn sie nicht da waren. Das waren die Spielregeln, die mir der ungebetene Gast diktierte und an die ich mich zu halten hatte.
    Der Schmerz wollte mich für sich allein haben, und nach reiflicher Überlegung denke ich heute, er stellte seine Forderung zu Recht. Denn egal, wie viele Messer er mir ins Herz bohrte, egal, wie weh er mir tat, er hatte stets auch ein Gastgeschenk mitgebracht, das er mir zuletzt, am Ende seines Besuchs, überreichte: eine Erkenntnis. Eine andere Perspektive. Einen Wegweiser, der mir eine neue Richtung anzeigte.
    Ich konnte diese Geschenke nur empfangen, wenn ich zuvor ganz und gar durch die Welle des Schmerzes geschritten war, wenn keine kalten, gepressten Tränen mehr zur Verfügung standen und mein Bauch keine Kraft mehr hatte, sich zu verkrampfen. Dann, in der Stille, in der Erschöpfung, war ich bereit für Neues. Dann, wenn ich keine Angst mehr haben musste vor der Pein, weil ich sie für den Moment bereits hinter mich gebracht hatte.
    Was geschah, wenn mich mein Besucher gerade nicht allein vorfand? Wenn die Umarmung einer Freundin den
Schmerz linderte und ihr Mund mich mit tröstenden Worten ablenkte von den Messern in meinem Bauch? Das Geschenk blieb dann aus. Der Gast zog sich zurück, um später wieder an meine Tür zu klopfen und mir seine Gabe zu überbringen. Dann, wenn ich dazu bereit war, sie zu empfangen.
    Niemand kann uns den Schmerz abnehmen. Wer sich ihm stellt, der darf sich fühlen wie ein Held.
    »Bravo! Gratuliere!«
    So müssten wir demjenigen zujubeln, der durch den Schmerz gegangen ist, und wir dürfen ihm dabei voller Respekt auf die Schulter klopfen. Dann sollten wir ihn bitten: »Erzähl von deiner Reise«, uns zurücklehnen und gespannt darauf warten, was er zu berichten hat.

    Die Trauer, der zweite Gast.
    Sie setzt sich oft leise an meine Bettkante, sobald der Schmerz von dannen gezogen ist.
    Schmerz und Trauer sind für mich wie Bruder und Schwester. Sie gehören zusammen. Sie kommen aus derselben Familie. Doch sie unterscheiden sich wie Tag und Nacht. Yang und Yin. Mann und Frau.
    Den Schmerz erlebe ich stets als einen Zustand, in dem sich in mir etwas in Widerspruch befindet. Eine Spannung erfüllt mich, weil ich eine Situation noch nicht so akzeptieren kann, wie sie ist. Diese Spannung tut weh, sie droht
mich zu zerreißen. Die Gedanken drehen sich krampfhaft um die Worte:
    Nein, ich will nicht!
    Bitte nicht!
    Hilfe!
    Ein Teil meines Körpers will die neue Realität bereits begreifen und annehmen, ein anderer Teil möchte nicht mitkommen, zieht in die Gegenrichtung und will zurück in die Vergangenheit.
     
    »Nein.«
    Dieses Wort fördert den Schmerz, in einem ganz physischen Sinn. Das habe ich schon im Vorbereitungskurs für Thimos Geburt gelernt. Meine Hebamme riet mir damals, während der Geburt stets »Jaaaa!« zu tönen. Der Vokal »a« entspanne die Muskeln. Er trage dazu bei, dass der Schmerz nachlässt. Die Vokale »e« und »i« hingegen sind Spannungslaute, sie verstärken die Spannung und somit die Empfindung des Schmerzes. Während der Wehen probierte ich beides aus. Neugierig wie ich bin, wollte ich es wissen.
    Das »Nein« habe ich schnell bleiben lassen.
    Ich finde, das Wort »Schmerz« passt selbst sehr gut zu dem Gefühl, das es beschreibt. Es macht den Mund eng, kommt gepresst hervor, will nicht auf der Zunge zergehen.
    Das Wort »Trauer« klingt ganz anders. »A«, »U«, die Vokale fließen, öffnen den Mund. Die Trauer ist ruhiger und tut nicht so weh. Sie ist leiser und viel weniger spektakulär.
    Tränen der Trauer fließen von selbst, endlos, warm, sie müssen nicht

Weitere Kostenlose Bücher