Vier Tage im August
wie du. Kennst du seine Geschichte?
Leo schwieg, hockte im Schneidersitz im Gras.
Im Zorn hat er einen Löwen mit bloßen Händen zerrissen. Die Gegner im Dutzend mit der Kinnbacke eines Esels erschlagen. Seine bestochene Geliebte wusste, dass seine Riesenkraft mit der Länge seines Haars zusammenhing. Sie hat es ihm abgeschnitten, während er schlief. Samson wurde überwältigt und im Tempel an eine Säule gekettet. Doch als die Mähne nachgewachsen war, riss Samson die Säule um, und der Tempel brach zusammen. Als Rächer riss er dreitausend Feinde mit in den Tod.
Elmar Brink war dreist genug, mit den Händen in Leos Locken zu greifen, sie zu einem Rossschwanz zu bündeln. Er zerrte daran. Es tat weh. Er zwang Leo, den Kopf schräg zu legen. Leo verachtete Brink. Grinsend deutete der Boss eine Schere an.
Lass das.
Leo stieß mit der Schulter gegen Elmars Brust, schüttelte ihn ab. Leo war nochmals um einen halben Kopf länger als der groß gewachsene Elmar Brink mit seiner idiotischen Haartolle. Leo hätte ihn am liebsten mit einer trockenen Kopfnuss niedergestreckt.
Leo Zimny war wütend auf Elmar Brink. Der Typ machte sich so offensichtlich an Alice heran. Wie unverschämt er ihr eine Hand aufs Knie legte, den Arm um die Taille. Alice tat doch so, als fasse sie die Berührungen als kameradschaftliche Geste unter Sportlern auf? Leo hoffte, sie lasse Elmar nur im Scherz gewähren. Allerdings verstellte sie sich dafür zu wenig glaubhaft. Fühlte sie sich von Elmars Anmache geschmeichelt? Ließ die Angebetete sich dies alles gern gefallen? Oder rümpfte sie die Nase über Brink? Zwinkerte sie Leo insgeheim zu?
Liebte sie ihn auch – verriet sie ihn?
Leo ließ seine Mähne wie einen Vorhang vor sein Gesicht fallen. Schloss die Augen. Sah den verhassten Brink von einem Tritt niedergestreckt auf dem Boden liegen. Blut rann aus dessen Ohren. Leo atmete tief durch. Öffnete die Augen wieder. Und entdeckte die Taube, eine vorbeitrippelnde, überaus plumpe Taube, die unbeholfen zum Start ansetzte. Dabei war sie zum Fliegen entschieden zu schwer. Leo Zimny hielt die Tatenlosigkeit nicht länger aus und holte die fette Taube mit einem blitzschnellen Kick aus der Luft herunter. Bei der Drehung knickte das Standbein um, und Leo kam unglücklich zu Fall. Er schrie vor Wut, tobte vor Eifersucht.
Tot, die Taube war tot, Leo hatte sie am Kopf erwischt und ihr das Genick gebrochen. Er hatte sie mit seiner unbeherrschten Wucht getötet und sich beim Sturz den Fuß verdreht und den Knöchel kaputt gemacht, die Bänder zerrissen.
Fünf Wochen Pause, hatte der Arzt verordnet.
René Spring, ein Junior, der zunächst als Leos Ersatz ins Boot geholt wurde, nutzte seine Chance, genau darum war er ja vom Engadin nach Zürich gezogen, er behauptete sich im Boot. Der Vierer war mit dem umgänglichen und begabten Mann aus den Bergen noch schneller unterwegs, und als Leo, wieder genesen, seinen Anspruch auf den verlorenen Platz am vierten Ruder wieder geltend machte, hatte sich alles verändert.
Nein, sagte Brink, René Spring bleibt im Boot.
Paul Fontana und Ivo Blume hatten sich mit der Umbesetzung arrangiert. Der vierte Mann, René Spring, übertraf alle Erwartungen, das Boot lief rund… wozu sollten sie nochmals das Risiko eines Wechsels eingehen? Leo hat Pech gehabt, Punkt. Er hat es versiebt. So ist Sport.
Alice teilte diesen Standpunkt nicht, sie war unzufrieden und kämpfte für Leos Rückkehr. Brink ließ nicht mit sich reden. René Spring, sagte er dem Blick der Steuerfrau und Trainerin standhaltend, passt besser ins Boot. Sie empfand seine Gewissheit als Willkür.
Nach dem ernüchternden Gespräch suchte sie Leo. Fand ihn im Kraftraum. Er lag rücklings auf der Stemmbank, bewegte schwere Eisenscheiben. Er schien sie nicht zu beachten. Alice betrachtete seinen kraftvollen, ebenmäßigen Körper mit plötzlich verändertem Blick.
Elmar hatte Leo Zimny aufgegabelt und zum Rudern überredet. Leo war ihm beim Karate aufgefallen, in einer muffigen Turnhalle, in die er nicht zufällig hineingeraten war. Er besuchte immer wieder Sportveranstaltungen, um Hochbegabte zu entdecken, die man ausbilden und in ein Boot einbauen konnte. Die Schnelligkeit und Kraft, wie der Typ in einer düsteren Gerätekammer Ziegelsteine zertrümmerte, beeindruckte Elmar. Man müsste ihm die Rudertechnik beibringen, man könnte ihn formen, man müsste ihn führen, und dieser Mann zerrisse jedes Boot.
Nun stöhnte er da unter der schweren Hantel.
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