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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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ständig und tätig in der Praxis erproben zu müssen. Dies galt vor allem auch für unser großes und zentrales Thema in Berlin, für die Folgen und die Zukunft der Teilung im fortdauernden Kalten Krieg. Dieser erlebte seit dem Ende der siebziger Jahre zunächst seinen Nachwinter. Dazu gehörten die schon erwähnten neuen sowjetischen Mittelstreckenraketen und der Doppelbeschluß der Nato mit der Folge der Nachrüstung. Als die Sowjetunion ihren ebenso unsinnigen wie unmenschlichen Angriffskrieg in Afghanistan startete, kamen die globalen Kontakte zum Stillstand.
    Der nächste Einbruch erfolgte in Polen. Dort entfaltete die Solidarność-Bewegung dank des Mutes ihrer Anführer, die sich ständig auf die KSZE-Schlußakte beriefen, eine veritable Oppositionsdynamik. Die polnische Führung, zugleich treu kommunistisch und national polnisch gesinnt, fand zwischen der Skylla
der verhaßten Russen und der Charybdis des gefürchteten freiheitlichen Aufstandes zu Hause keinen anderen Ausweg als die Verhängung des Kriegsrechts. Ein Tiefpunkt im Ost-West-Konflikt war erreicht wie seit zwanzig Jahren nicht mehr.
    In Moskau war eine in ihren Kräften und ihrem Denken überalterte Führung am Ruder. Der neue amerikanische Präsident Reagan schlug scharfe Töne an. Er sprach vom Osten als einem »Reich des Bösen«. In der strategischen Zielplanung der Amerikaner war die Rede von einer »Enthauptung der Sowjetunion«. Es ging um die Frage, ob ein atomares, stabilitätserhaltendes Gleichgewicht des Schreckens unverändert erhalten bleiben solle oder ob die sogenannte SDI dazutreten könne, die Strategic Defense Initiative, in Amerika Star Wars genannt. Mit ihrer Hilfe sollte Amerika in die Lage versetzt werden, atomare Schläge der anderen Supermacht abzuwehren, ohne selbst an solchen Schlägen gegen die Sowjetunion gehindert zu sein. Mit einem Wort: Die Führbarkeit eines atomaren Krieges sollte wiederhergestellt werden.
    Die meisten Europäer beurteilten dies als technisch, strategisch, politisch und menschlich gleichermaßen unreif. Der Verdacht einer Abkoppelung innerhalb der Nato kam auf. Aus Amerika hörte man, wir Europäer und insbesondere wir Deutschen seien entweder Krämerseelen wegen unserer Liebe zum Osthandel oder Feiglinge, die sich von Moskau einschüchtern ließen. Die von Bonn nachhaltig betriebenen innerdeutschen Beziehungen wurden in Washington als »Selbstfinnlandisierung« der Bundesrepublik bezeichnet, also als eine freiwillige Hinnahme eines Abhängigkeitsverhältnisses von Moskau. Ich habe dies stets als eine ziemlich kenntnislose Herabsetzung der eindrucksvollen tapferen Finnen angesehen und, im Hinblick auf unsere Mittellage im Kontinent, als kurzsichtig und falsch. Aber es war ein nicht untypischer Ausdruck der damaligen Stimmungen und Spannungen.
    In Wahrheit haben sich beide Bundeskanzler jener Zeit, Hel-mut
Schmidt und seit Oktober 1982 Helmut Kohl, eindeutig und bündnistreu in der Nato verhalten. Schmidt hatte nicht zuletzt wegen dieser Treue die Mehrheit in seiner Fraktion und damit das Kanzleramt eingebüßt, Kohl aus ähnlichen Gründen bei der Bundestagswahl im Frühjahr 1983 für seine Koalition die Mehrheit der Wähler gewonnen. Beide Kanzler haben sich aber auch mit Entschiedenheit und letzten Endes mit Erfolg um Schadensbegrenzung im Ost-West-Verhältnis bemüht, also darum, die Entspannungspolitik nicht einer neuen Rüstungskonfrontation zu opfern, und zwar sowohl für die innerdeutschen Beziehungen als auch im Verhältnis zu Polen und zur Sowjetunion.

    Der amerikanische Präsident Ronald Reagan vor dem Schloß Bellevue in Berlin 1988. Eine Stunde später rief er auf einem Podium am Brandenburger Tor vor aller Welt aus: »Mr. Gorbatschow, tear this wall down.«
    Für uns Deutsche war es naturgemäß wichtig und unverzichtbar, zwischen den beiden deutschen Staaten und nicht zuletzt in Berlin politisch und menschlich weiterzukommen, das heißt, den Menschen die Leiden und Lasten der Teilung zu erleichtern,
aber ohne die Rahmenbedingungen zu beschädigen, also das Ziel der Einheit. Wie das zu bewerkstelligen sei, darüber gab und gibt es bis hinein in die heutigen zeitgeschichtlichen wissenschaftlichen Arbeiten viel Streit.
    Laut Martin Luther neigen wir Deutschen in der Politik dazu, wie ein betrunkener Bauer entweder rechts oder links vom Pferd herunterzurutschen. In der Tat, besonders gefragt war unsere Fähigkeit zur Balance, zwischen Sicherheit und Entspannung, zwischen Konfrontation

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