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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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Jahrzehnten die Sozialdemokratie in die Opposition verwiesen. Auch wenn die CDU mit ihren 48 Prozent den Senat nicht allein wählen konnte, so war doch niemand im Zweifel darüber, daß nur sie die Regierungsverantwortung übernehmen könne. Nach einigem Hin und Her entschieden sich fünf der sieben FDP-Abgeordneten, den von mir vorgeschlagenen Senatskandidaten und mir selbst die nötige absolute Mehrheit zur Wahl zu verschaffen, ohne ihrerseits gleich auch noch eine Koalition mit uns einzugehen. Man nannte uns zumeist den Minderheitssenat, was mich stets erheiterte, da wir ja alle mit der absoluten Mehrheit des Hauses gewählt worden waren. Was heißt da Minderheit?
    Gleichviel, nun begann die Arbeit auf der anderen Seite des Tisches. Eigene Regierungserfahrung hatte ich nicht. Aber das Amt des Regierenden Bürgermeisters ist so eigenartig, daß schon Stobbe ganz mit Recht gesagt hatte, alle bisherigen Inhaber hätten diesen Posten ohne Erfahrung angetreten, so auch Ernst Reuter und Willy Brandt. Zu jener Zeit der Teilung der Stadt, des ganzen Landes und Europas mit ihren eigentümlichen Souveränitätsverhältnissen gab es in Deutschland kaum eine interessantere und vielseitigere Aufgabe. Die Spannweite reichte vom heftigen kleinen Streit über die Umbenennung einer zweihundert Meter langen kleinen Wilmersdorfer Straße in Gottfried-von-Cramm-Straße bis zu den großen Spannungen im Ost-West-Konflikt, für die Berlin ein besonders empfindlicher Resonanzboden war und bei denen der jeweilige Regierende Bürgermeister in den Hauptstädten der Westmächte regelmäßig zu Rate gezogen wurde.
    Berlin als Ganzes unterstand den vier Siegermächten, den Amerikanern, den Sowjets, den Franzosen und den Briten. In Berlin-West waren die westlichen drei Alliierten im Besitz der obersten Gewalt. Einmal in jedem Monat besuchte der Regierende Bürgermeister die drei Stadtkommandanten und ihre politisch-diplomatischen Stellvertreter. Es wurde berichtet und
beraten, ausnahmslos in freundlichster Atmosphäre. Die gemütlichste Residenz mit dem schönsten Garten und dem besten Tee hatten - wie sollte es anders sein? - die Engländer. Mehr als einmal sagte ich ihnen, daß wir diese Überbleibsel eines Besatzungsregimes, über dreißig Jahre nach Kriegsende, sehr gut ertragen können. Sie stellten die einzigen mir bekannten Besatzungsmächte der Welt dar, die so lange im besetzten Gebiet blieben, wie es dem besetzten Volk recht war. Natürlich war es uns recht, und wir waren vielleicht die einzige für ihre Besetzung dankbare Bevölkerung.
    Es waren ja die Westmächte, die unsere Freiheit gewahrt hatten und weiter beschützten. Es war ein gutes, oft wirklich herzliches Verhältnis. Immer wieder haben wir es erlebt, daß die Vertreter der drei Westmächte in Berlin nur ungern ihren Posten bei uns aufgaben, und auch wir waren bei jedem Wechsel traurig, weil es sich stets um die Abreise von neu gewonnenen Freunden handelte. Einflußnahme auf die Politik des Regierenden Bürgermeisters durch die Schutzmächte habe ich nicht erlebt.
    Der im Viermächteabkommen so klassisch formulierte Widerspruch, wonach die Westsektoren der Stadt kein konstitutiver Teil der BRD seien und weiterhin nicht von ihr regiert würden, und zugleich, daß die Bindungen - oder nach sowjetischer Lesart Verbindungen -zwischen der Bundesrepublik und WestBerlin »aufrechterhalten und entwickelt« werden, bewährte sich in der Praxis. Einerseits wurden wir von Bonn wie ein Bundesland regiert, aber mit dem Sonderbonus der Berlin-Hilfe und Berlin-Förderung. Knapp über fünfzig Prozent unseres Landeshaushalts wurden vom Bund finanziert, und Steuervergünstigungen sorgten für Arbeitsplätze. Andererseits aber blieben wir formal unabhängig. Wenn Bundestag und Bundesrat Gesetze beschlossen, waren diese bei uns erst dann wirksam, wenn das Abgeordnetenhaus sie durch eigenen Beschluß in Kraft setzte.
    Gewiß war dieser eigentümliche Status nur von begrenzter Bedeutung. Dennoch konnte man mit ihm auch Politik machen.
Wir waren eben zugleich abhängiger und unabhängiger als die anderen Landesregierungen, mit denen wir ja gemeinsam im Bundesrat saßen. Man konnte sich als Regierender Bürgermeister die Lage eines Kindes zum Vorbild nehmen, das sich für die Durchsetzung seiner Wünsche an den jeweils günstigeren Elternteil wendet, bald an die Bundesorgane, bald an die souveränen drei Mächte.
    Auch war man an der deutschen Außenpolitik unmittelbar beteiligt. Alsbald nach

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