Vier Zeiten - Erinnerungen
zugunsten Dritter eingelassen, nämlich der vielen, die Arbeit suchen. Ohne spürbare Rücksicht auf die Zukunft war es um Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten in der Gegenwart gegangen. Langfristige Perspektiven waren kaum erkennbar, ganz zu schweigen von unserer politischen Hauptaufgabe, der lebenswerten Zukunft für die nachfolgenden Generationen.
Bei meinem zweiten Thema ging es mir um die wache Aufmerksamkeit der Deutschen in der DDR für unsere Haltung im Westen. Wer die Trennung so leidvoll empfand wie sie, erhoffte sich gerade um unserer Zusammengehörigkeit willen eine starke friedenstiftende Kraft der Bundesrepublik für ganz Europa. Damit war der Schwerpunkt meiner ersten Jahre im Amt berührt. Schon Karl Carstens, der mir das von ihm vorbildlich geführte Amt mit uneigennützigen und klugen Ratschlägen übergab, hatte mir die auswärtigen Beziehungen besonders ans Herz gelegt.
Eine enge Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt war dafür vonnöten. Ich habe sie von Beginn an erbeten und während des ganzen Dezenniums meiner Präsidentschaft auf hervorragende Weise erhalten. Dies lag zunächst und vor allem an
Hans-Dietrich Genscher, der während des längsten Teiles meiner Amtszeit als Außenminister fungierte, bis ihm 1992 Klaus Kinkel auf bewährte Weise nachfolgte. Genscher sorgte für eine lückenlose Information. Mit ihm kam es zu einem laufenden Gedankenaustausch und, was das wichtigste war, zu einer ständig von neuem erprobten außenpolitischen Übereinstimmung. In einer kurz zurückliegenden, für ihn als FDP-Vorsitzenden ungewöhnlich schwierigen Zeit, als er seine Partei beim Wechsel in die Koalition mit der Union anführte, hatte er sich ein wichtiges Verdienst um unser Land erworben: Er hatte für außenpolitische Kontinuität beim Regierungswechsel von Schmidt zu Kohl gesorgt.
Viele Tausende von Kilometern sind Hans-Dietrich Genscher und ich zusammen gereist, wobei mich immer wieder seine wache Intelligenz beeindruckte.
Oft konnte man kritische Äußerungen über ihn hören. Er sei undurchsichtig, hieß es da, einer geheimnisreichen Sphinx gleich. Meine Erfahrungen mit ihm sind gegenteiliger Art. In den gemeinsamen Gesprächen und Reisen ebenso wie bei allen
Kontakten im In- und Ausland erlebte ich bei ihm einen klaren, zäh verfolgten Kurs. Er handelte von der Erkenntnis aus, daß unser wieder gewachsenes Gewicht als Deutsche uns eine besondere Sorgfalt auferlegt. Alles, was wir tun oder unterlassen, betrifft uns nicht allein. Die deutsche Geschichte hat uns noch nie allein gehört und wird uns nie allein gehören. Soweit wir über Macht verfügen, gilt es, sie als Verantwortungspolitik zu praktizieren. So trivial dies klingen mag, es bleibt unser vitales, leider zuweilen verletztes nationales Interesse.
Genschers blitzartig reagierende Intelligenz, sein stupendes Gedächtnis, seine souveräne Beherrschung eines großen und hochqualifizierten Apparates waren eindrucksvoll genug. Das wichtigste aber war sein innerer Kompaß für das, was uns Deutschen in der Welt und was der Welt mit uns Deutschen bekömmlich ist, wo und wie wir mit unserem Pfund zu wuchern haben. Natürlich ist richtig, daß er nicht immer alles sagt, was er weiß, zumal nicht über andere. Wie ich glaube, gehört dies zu seinen Qualitäten, und mancher Zeitgenosse sollte im eigenen Interesse über den Schutz froh sein, den er Genschers Diskretion verdankt.
Was mich mit ihm verband, war auch seine Art, stets im Sinne und Geiste beider Teile Deutschlands zu denken und zu handeln. Er, der frühzeitig aus Halle in den Westen gekommen war, hörte nie auf, mit jenen zu fühlen, die nicht herauskamen, aus welchen Gründen auch immer. Er verstand, daß und wie die meisten von ihnen sich unter den dortigen Bedingungen bemühten, ein anständiges Leben zu führen. Deshalb hat er auch später keinem von ihnen zugemutet, die eigene Biographie im Geiste zu löschen.
Auch mit dem Kanzleramt, in dessen Hand die innerdeutschen Beziehungen lagen, kam es für mich zu einer vertrauensvollen, engen und fruchtbaren Zusammenarbeit. Allen Unterschieden in den Programmen und in der Sprache der Bundestagsparteien zum Trotz sorgten die Kanzleramtsminister
Jenninger, Schäuble und Seiters in der Praxis dieser empfindsamen Materie für eine verantwortungsvolle politische Kontinuität, die den Landsleuten in der DDR auf dem Weg bis zur Wende zugute gekommen ist.
In meinem eigenen Amt hatte ich das Glück, in zweimal fünf Jahren je
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