Vier Zeiten - Erinnerungen
85 zustande. Helmut Schmidt wirkte daran maßgeblich mit. In der Union hatte Barzel die schon erwähnte Grundsatzkommission geschaffen, die sich alsbald zur Grundsatzprogrammkommission fortentwickelte. Als ihr Vorsitzender fand ich hier, neben der Deutschland- und Ostpolitik, mein zweites politisches Arbeitsgebiet. Es war anregend und schwierig zugleich.
Belebend war, daß endlich einmal auch außenstehende Geister
ein erwartungsvolles Interesse an Programmen politischer Parteien zeigten. Es kam zu zahlreichen, oft hochqualifizierten kritischen Beiträgen von Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern, Historikern und Politologen, Medizinern und Juristen, Naturwissenschaftlern, Theologen und auch einigen Künstlern, unter ihnen Oswald von Nell-Breuning, Wilhelm Krelle, Ulrich Scheuner und Joseph Beuys.
In der Auseinandersetzung zwischen SPD und CDU entwickelte sich ein nicht unfruchtbarer Streit über die Grundwerte. Beide Parteien hatten sich auf die Grundwerte der Freiheit, der Gerechtigkeit und Solidarität festgelegt. Die SPD hatte die zeitliche Priorität, was aber nicht allzuviel bedeutete, da es sich ja um aus der christlichen Lehre abgeleitete und in der Französischen Revolution säkularisierte Ziele handelte.
Der Kern der Auseinandersetzung lag bei der Solidarität. In der Phase der Industrialisierung war dies das legitime und langfristig erfolgreiche Markenzeichen der Arbeiterbewegung gewesen. Es war der Kampf der Gleichen mit den Gleichen gegen die Ungleichen, um humane Arbeits- und Lebensbedingungen durchzusetzen.
Inzwischen aber war die Zeit durch andere, neue Widersprüche und Konflikte geprägt. Dadurch wurde das Verständnis von Solidarität zum wichtigsten grundsatzprogrammatischen Streit zwischen SPD und Union. Im sozialdemokratischen Orientierungsrahmen 85 wurde die Solidarität nahezu unverändert als Kampfgemeinschaft gegen andere beschrieben. Dort hieß es rundheraus, es könne keine Solidarität geben zwischen Reichen und Armen, Mächtigen und Machtlosen, Wissenden und Unmündigen. Ein Widerspruch gegen diese These sei schlechthin der Grundirrtum des politischen Gegners.
Aber was ist globale Entwicklungspolitik, wenn nicht Solidarität unter Machtungleichen? Ist die Forderung nach einer liberalen Asyl- und Ausländerpolitik etwas anderes als Solidarität zwischen Reichen und Armen? Wer, wenn nicht die Wissenden,
ist primär verantwortlich für den Zusammenhalt und sozialen Frieden in einer Gesellschaft von Ungleichen?
Gewiß, es ist unglaublich schwer, eine Solidarität »von oben« gegenüber den Hilfsbedürftigen und Schwachen durchzusetzen. Aber sie muß doch wenigstens das programmatische Ziel sein, damit Reichtum, Macht und Wissen nicht immer von neuem dazu mißbraucht werden, den eigenen Vorsprung zu sichern und zu vergrößern.
Darüber also stritten wir uns damals. Es gab dabei auch innerhalb der CDU lebhafte Diskussionen. Heiner Geißler setzte sich für gewissenhafte und konkrete Antworten auf die von ihm so genannte »neue soziale Frage« ein. Soziale Dienste wurden eingeführt. Vor dem Hintergrund des viel zu weit gewachsenen Anteils des Staates am Sozialprodukt löste Kurt Biedenkopf mit seiner analytischen Kraft und seiner scharfsinnigen und mutigen Unabhängigkeit eine notwendige Kontroverse zugunsten der ordnungspolitischen Grundsätze und gegen die Verteilungspolitik aus. Am Ziel der Lebensqualität entzündete sich ein Streit über zugeteiltes oder selbsterarbeitetes Glück. Für die Bildungsreform fand sich jahrelang keine Einigkeit, ob von Chancengerechtigkeit oder Chancengleichheit gesprochen werden solle.
Gedankengebäude und Prinzipien müssen an der Elle der realen politischen Aufgaben gemessen werden. In der Sprache politischer Parteien heißt dies: sie müssen ihren Nutzen im ständigen Kampf um die Macht erweisen. Zwar ist es für Parteien wichtig, zündende Begriffe zu finden und rechtzeitig zu »besetzen«. Aber das gelingt nur selten. Auch kann ich nicht leugnen, daß wir in der Kommission Freude einfach nur am Herumdenken über Programme hatten, ohne ständig auf den nächsten Wahltermin fixiert zu sein. Dafür ernteten wir in der Partei eher Achtung als Einfluß, zumal die CDU - anders als die SPD - keine alternde Jugendbewegung war, sondern ein moderner Wahlverein. Über zehn Jahre lang erhielt ich auf Bundesparteitagen die meisten Stimmen bei den Vorstandswahlen. Die unterschiedlichen
Anteile an der Macht beschrieb aber ein Journalist mit den Worten:
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