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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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von Helsinki geschaffen, indem er sich mit dem polnischen Parteichef Gierek über die schwierigen, noch offenen bilateralen Fragen verständigt hatte.
    Zugleich aber war Schmidt dem anderen Standbein, der Allianzpolitik, nicht weniger treu. Quasi um ihn auf die Probe seiner Haltung zu stellen, boten die Sowjets massiven Anlaß. Breschnew begann in der Mitte des Jahrzehnts, die sich immer noch ausbreitende westliche Entspannungseuphorie für wachsende Rüstungen zu mißbrauchen. Er produzierte und stationierte neue, höchst wirkungsvolle Mittelstreckenraketen im Westen des Warschauer-Pakt-Bereichs. Es waren die berühmten SS 20. Sie konnten zwar keine amerikanischen Territorien erreichen, wohl aber beinahe jeden Punkt in Europa. Durch ihre Rüstungskontrollabkommen mit den USA waren die Sowjets an solchen Maßnahmen formal nicht gehindert. Für Westeuropa aber, insbesondere für die Bundesrepublik, entstand eine nicht hinnehmbare Lage, wofür es zunächst in den USA wenig Verständnis gab. Man sprach dort von »theater weapons«, also von Kriegsschauplatzwaffen, eine unerträgliche Vorstellung für uns. Als Carter dies nicht auf Anhieb begreifen wollte, hielt Schmidt eine damals rasch berühmt gewordene Rede in London. Er verlangte den Rückzug der SS 20, widrigenfalls eine vergleichbare Nachrüstung der Nato mit taktischen Atomwaffen unumgänglich werde.

    Schmidt und Carter verkehrten in einem ziemlich unwirschen Ton miteinander. Es war eine relativ unruhige Phase in unseren Beziehungen mit den USA. Schließlich setzte der Kanzler 1979 seine Linie in einer Vereinbarung mit der amerikanischen, der britischen und französischen Führung durch. Der sogenannte Doppelbeschluß der Nato kam zustande.
    Mit ihm stieß Schmidt später im eigenen Land auf massive Schwierigkeiten. Denn in allen europäischen Nato-Ländern gab es Widerstand gegen die Stationierung neuer Raketen. Es entstanden Friedensbewegungen, die stärkste bei uns in der Bundesrepublik, und wenn sie auch Friedensbewegungen hießen, so verliefen ihre Auseinandersetzungen mit den staatlichen Organen doch mehr bewegt als friedlich. In seiner eigenen Partei konnte Schmidt die Gegensätze nicht in seinem Sinne überwinden. Aber das alles kam erst später. Zunächst war es der bundesdeutsche Kanzler, der international den Ton angab.
    Zusammen mit dem französischen Präsidenten Giscard d’Estaing schuf er den Weltwirtschaftsgipfel, eine Konferenz der führenden westlichen Wirtschaftsnationen, einst als vertrauliche Kaminberatung gedacht, später leider gelegentlich zu einem gigantischen Medienspektakel denaturiert, wenn auch heute vielleicht geeignet, Rußland besser in die Weltgemeinschaft zu integrieren. Auch innerhalb der europäischen Gemeinschaft sorgte Schmidt für Bewegung. Zusammen mit Paris entwickelte er 1979 aus der Währungsschlange des Jahres 1972 das europäische Währungssystem mit dem Ziel einer stabilen Währungszone in der Gemeinschaft. In Maastricht fand sie später ihre konsequente Bestätigung. Helmut Schmidt war international auf der Höhe seines Ansehens.

Innenpolitik in der Ära Schmidt; Grundsatzprogrammarbeit der Parteien
    Auch innenpolitisch hatte sich die Lage zugunsten der sozialliberalen Koalition stabilisiert. Im Herbst 1976 hatte zwar Kohl bei der Bundestagswahl ein starkes Wahlergebnis erzielt, das zweitbeste in der ganzen bisherigen Geschichte der Union. Der streitbare Kanzler Schmidt hatte es mit der Inflation nicht so genau genommen und sich auch in der Rentenpolitik heftigen Angriffen ausgesetzt. Bald nach der Wahl ging es jedoch mit der Wirtschaft wieder aufwärts.
    Die siebziger Jahre waren in der Bundesrepublik durch eine höchst lebendige Parteiendemokratie geprägt. Die Achtundsechziger hatten auf außerparlamentarischen Oppositionswegen zunächst allseits für Unruhe gesorgt, sich mit ihrem Gros dann aber auf den Marsch durch die Institutionen gemacht. Das verspürte vor allem die SPD. Die Beteiligung der Bürger bei den Bundestagswahlen war zu keiner anderen Zeit so hoch wie in diesem Jahrzehnt. Sie lag bei über neunzig Prozent. Die klassischen Parteien der Bonner Republik, Union, SPD und FDP, konnten dabei über achtundneunzig Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen. Die Zahl der Parteimitglieder stieg zumal bei der Union auf zuvor nie gekannte und danach wieder abfallende Höhen.
    Arbeiten an Parteiprogrammen hatten Hochkonjunktur. Bei der SPD kam der sogenannte ökonomisch-politische Orientierungsrahmen

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