Vier Zeiten - Erinnerungen
»Biedenkopf (damals Generalsekretär) managt, Weizsäcker denkt, Kohl lenkt.« Das war mindestens, was Biedenkopf anbetrifft, eine Untertreibung; denn Grundlage seines Handelns war und bleibt stets seine Freude am selbständigen Denken.
In Wellenbewegungen kehrt der Ruf nach Werten wieder, heute stärker als damals. Die Marktwirtschaft hat sich beinahe global durchgesetzt. Mit dem Ziel, Gewinne zu maximieren, werden die allseits offenen Grenzen überschritten. Vor dreißig Jahren war bei uns eine Koalition nicht zuletzt an einer Arbeitslosenquote zu Bruch gegangen, die nur ein Zehntel der heutigen betrug. Allseits, zumal in den ehemals kommunistisch beherrschten Reformländern, wird nach lebendigen ethischen Grundlagen des Kapitalismus gefragt, die dereinst ein fester Bestandteil des Denkens bei den Begründern der Marktwirtschaft gewesen waren, vor allem bei Adam Smith und später bei Alexis de Tocqueville. Man sucht nach einer Erneuerung des Systems der sozialen Marktwirtschaft, nach der Brauchbarkeit der Ideen ihrer geistigen Lehrer, Walter Eucken oder Wilhelm Röpke, dessen bekanntestes Buch charakteristischerweise den Titel »Jenseits von Angebot und Nachfrage« trug.
Ein Motiv für die neuerlichen, auch in den Parteien vernehmbaren Rufe nach Werten äußert sich in dem Ruf nach einem moralischen Kapitalismus. Dabei möchte ich anhand meiner eigenen Erfahrungen beim Streit über Grundwerte in den siebziger Jahren auf die mangelnde Klarheit und Brauchbarkeit einer allzu abstrakten Grundwertedebatte hinweisen. Es kostet wenig, sich auf Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu berufen, und es bringt aus sich selbst heraus nur spärliche Erträge. Eines haben Kapitalismus und demokratische Verfassungen gemein: Sie leben von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen können. Sie räumen Chancen ein, und sie schützen den Bürger vor staatlichen Übergriffen. Aber sie können die Lebendigkeit der Bürger
sowenig erzeugen wie ihr Pflichtbewußtsein und ihren Anstand. Deshalb ist das Thema der Pflichten oder, dem antiken und dem christlichen Vorbild folgend, der Tugenden weitaus dringlicher. Es ist dem Kern der gesuchten Antworten näher als die sogenannten Werte. Schon damals war es ein alarmierendes Zeichen, daß Bundeskanzler Schmidt, als er solche Tugenden aufzählte und ihre zentrale Bedeutung unterstrich, aus den eigenen Reihen der Propaganda für Sekundärtugenden geziehen wurde, die ihren Wert durch ihre Mißbräuchlichkeit in autoritären Systemen eingebüßt hätten.
Aus guten konstitutionellen Gründen werden wir den magistralen Grundrechtekatalog unserer Verfassung nicht durch einen Grundpflichtenkatalog ergänzen. Der Staat kann nicht verordnen, worum es dabei geht. Auf die Dauer aber werden unsere freiheitliche Demokratie und unser freier Markt nur bestehen, wenn wir uns über die humanen Tugenden und Pflichten verständigen und sie praktizieren, die in verantwortlicher Weise den Weg zu unserer heutigen Freiheit gebahnt haben. Dies sind zentrale Themen auch für Parteien in der heutigen Zeit.
Die Programmdiskussionen der siebziger Jahre ergaben einen relativ tragfähigen Konsens über die Grundlagen von Staat und Gesellschaft. Einen tiefgehenden Einfluß auf die Tonlage der Parlamentsdebatten und Wahlkämpfe aber hatten sie kaum. Solange Brandt Kanzler war, verlief der politische Disput ziemlich moderat. Einmal griff er mich an, weil ich - zugegebenermaßen nicht sehr erleuchtet - von einer geschlossenen Ideologie des Neomarxismus gesprochen hatte. Er meinte, das sei, soweit die SPD gemeint sein könnte, eine Attacke gegen Windmühlenflügel. Daß ich aber als Don Quichotte eine gewisse Prominenz in der Opposition errungen habe, sei kein Zufall, weil in deren Führung Figuren nach dem Zuschnitt von Sancho Pansa dominierten. Dies unverhoffte Lob ließ mich nicht ruhen, da ich im Falle der lebenslangen Verbannung auf eine einsame Insel mit der Erlaubnis, die Werke nur eines einzigen Dichters mitnehmen
zu dürfen, lediglich Shakespeare noch lieber einpacken würde als Cervantes. Also schickte ich Brandt eine Ausgabe des Don Quichotte mit dem Ausdruck meiner Hoffnung, er möge sich an der unvergleichlichen Kraft dieses Helden erfreuen, der stets ungleich viel mehr zur positiven Veränderung der Menschen beigetragen habe, als es uns Politikern gelinge. Hoffentlich hat er mir damals meinen Schwarm für Cervantes nachgesehen.
Eine der vielen Begegnungen mit Helmut Schmidt und seiner Frau Loki. Aus
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