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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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gegensätzlichen Gründen zunächst einigermaßen zufrieden. Moskau empfand den sogenannten Korb 1 als eine Art Ersatzfriedensvertrag, also als eine multilaterale, von allen europäischen Staaten mit den USA und Kanada vollzogene Anerkennung ihrer mittel- und osteuropäischen Position. Für den Westen stand Korb 3 im Zentrum, denn dieser enthielt die entscheidenden ersten Ansätze für Freizügigkeit, Menschenrechte und Demokratisierung. Sie waren, wie schon erwähnt, nicht gerichtlich einklagbar. Dennoch waren es gemeinsam
formulierte und unterschriebene Texte, die auch von den Ländern des Ostblocks in ihren Zeitungen publiziert werden mußten. Die Menschen im sowjetischen Machtbereich konnten sich nun ihren Machthabern gegenüber auf diese Texte mit dem Anspruch auf freie Rede, freie Reise und freien Austausch von Ideen und Informationen berufen. Das brachte natürlich noch nicht die Freiheit selbst, war aber doch für damalige Verhältnisse etwas Ungeheuerliches, fundamental Neues.
    Dazwischen lag der Korb 2 mit der Aufforderung zu ausgedehnter Zusammenarbeit auf allen Gebieten der Wissenschaft und Technik, der Wirtschaft und Kultur. Hier mußte sich zeigen, ob Ost und West zu einer friedlichen Koexistenz gewillt und in der Lage sein würden. Es war die Sowjetunion, die diesen Begriff der friedlichen Koexistenz eingeführt hatte. Er bedeutete für sie den internationalen Klassenkampf unter Vermeidung von Krieg. Wir im Westen verstanden darunter freilich etwas ganz anderes, nämlich nicht nur friedliche, sondern systemöffnende Koexistenz.
    Die Sowjetunion hatte bekanntlich die Anerkennung des Status quo angestrebt. Hatten wir uns im Westen darauf eingelassen? Worauf denn, genauer gesagt? Da galt es zu unterscheiden: Verzicht auf jede Gewalt und Anerkennung des Status quo in Gestalt der bestehenden Grenzen, verbunden mit dem Recht ihrer friedlichen, vertraglichen Veränderung: ja, siehe Korb 1. Aber Anerkennung des Systems der anderen Seite, also ihrer innenpolitischen, ideologischen, wirtschaftlichen und menschenrechtlichen Prinzipien und Praktiken: nein, siehe Korb 3.
    Die Kernfrage lautete, ob es zu einer zwar friedlichen, darüber hinaus aber systemöffnenden Koexistenz kommen könne. Mit Systemöffnung konnte langfristig gar nichts anderes gemeint sein als Systemveränderung. Heute wissen wir, daß dies gelungen ist. Damals, in den siebziger Jahren, wußte es niemand.
    Diese Fragen standen im Mittelpunkt unserer laufenden transatlantischen Gespräche. Zunächst wurden freilich die Blütenträume
der Konferenz von Helsinki durch neue, nicht im Ost-West-Konflikt entstandene internationale Krisen überschattet.
    Die Amerikaner selbst setzten uns Europäer unberechenbaren Wechselbädern aus. Im Zuge des Vietnamkrieges und seiner qualvollen Liquidation inflationierten sie die ganze Weltwirtschaft. Das Weltwährungssystem von Bretton Woods, das sich fast drei Jahrzehnte lang gehalten hatte, brach zusammen.
    Im Zusammenhang mit dem israelischen Jom-Kippur-Krieg lösten die arabischen Öllieferungsländer die Ölkrise aus, die sie später noch einmal verschärften, als es zur Revolution im Iran und zum Krieg zwischen Iran und Irak gekommen war. Wilde Ölpreiserhöhungen und Währungsspekulationen waren die Folge. Der Dollar begann seinen Achterbahnkurs. Nachdem er noch relativ lange bei 4,20 DM gestanden hatte, sank er erstmals bis auf 1,70 DM. Die extrem exportabhängige deutsche Wirtschaft hatte mit Inflation und Leistungsbilanzdefiziten zu kämpfen. Es kam zu der bis dahin schärfsten Rezession der Nachkriegszeit.
    Gerade weil die neuen internationalen Krisen die Aufmerksamkeit von einer aktiven Ostpolitik ablenkten und die transatlantischen Beziehungen störten, waren die Kontakte so wichtig. Erschwert wurden sie durch den häufigen Präsidentenwechsel in den USA: von Nixon über Ford und Carter zu Reagan, vier Präsidenten in acht Jahren, mit durchaus schwankenden politischen Schwerpunkten.
    Hinzu traten, wie so oft in Washington, Meinungs- und Machtkämpfe zwischen der Legislative und der Exekutive. Mehrfach wurde ich bei Gesprächen im Weißen Haus und im State Department aufgefordert, eine soeben von mir geäußerte Meinung alsbald bei maßgeblichen Kongreßmitgliedern auf dem Kapitol zu wiederholen, um sie zur außenpolitischen Räson zu bringen. Dieselbe Mission erhielt ich gelegentlich aber auch in umgekehrter Richtung.

    Naheliegenderweise beschäftigen sich amerikanische Kongreßmitglieder ganz

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