Viereinhalb Wochen
Aufkleber, der alle, die damit zu tun hatten, auf eine besondere Art der Rücksichtnahme aufforderte – etwa dass wir in einem abgeschlossenen Bereich warten konnten und nicht zwischen all den dicken Bäuchen sitzen mussten. Diese Art von besonderer Aufmerksamkeit hatte ich bereits von Seiten des Professors erfahren und war ihm mehr als dankbar dafür.
Kaum waren wir wieder zu Hause, lagen wir auch schon im Bett und heulten los, einmal Tibor, dann ich. Es schien, als wäre das unser Normalzustand geworden: liegen, heulen, Tränen trocknen. Das Hirn zermartern über mögliche Ursachen der Schädigung. Mit uns ins Gericht gehen, warum dieses Leid ausgerechnet uns treffen musste. Im Internet nach Antworten auf diese Fragen suchen. Über dem Ausbleiben von Antworten verzweifeln.
Ich fühlte, wie ich mich von dem Baby distanziert hatte, ohne es bemerkt zu haben. Ich wollte nicht mehr schwanger sein. Tibor streichelte mir nicht mehr über den Bauch. Ich dachte über eine Abtreibung nach, ich zog den Abbruch als Möglichkeit in Betracht. Ich ekelte mich vor meinen eigenen Gedanken: Wenn es doch überlebt, lebst du ein Leben lang mit einem Schwerstbehinderten! Durfte ich so etwas denken? Ich las im Internet von christlichen Eltern mit behinderten Kindern. »Gott hat euch ausgesucht«, stand in Kommentaren zu solchen Fällen, »denn bei euch ist das behinderte Kind in besten Händen!« War das ernst gemeint? War das zynisch? Kann man sich ein behindertes Kind schönreden?
Ich tat mich schwer damit, mir solche Gedanken zuzugestehen. Ich musste sie Tibor gegenüber aussprechen. »Es darf keine Tabus geben«, sagte ich ihm, »was immer wir denken, müssen wir voreinander aussprechen können. Was immer an Lösungen möglich ist, müssen wir denken dürfen. Dazu gehört auch eine Abtreibung.«
Als ich das sagte, merkte ich, wie Tibor aufatmete. Sofort schworen wir einander, nichts vor dem anderen zurückzuhalten, nichts zu verschweigen, alles zu sagen, klänge es auch noch so abwegig oder wahnsinnig. Das kostete sehr viel Mut und Überwindung, aber es musste sein, darüber waren wir uns beide einig.
Ich stamme aus einer christlichen Familie. Für meine Mutter war eine Abtreibung immer tabu, auch damals, als sie meinen jüngsten Bruder erwartete, Justus, trotz seines Down-Syndroms. Doch was war ein Down-Syndrom gegen ein Hirn, das aus dem Hinterkopf austritt? Meine Mutter, mein Vater, dachte ich trotzig, müssen nicht ihr Leben mit einem lebenslang hilflosen Kind leben. Sie müssen nicht jahrelang wickeln, füttern, Rollstuhl schieben, Sabber abwischen. Ich muss das machen, dachte ich, Tibor muss das machen. Also muss die Entscheidung auch allein unsere Sache sein!
Ich wollte, dass Tibor wusste, wie frei auch ich die Entscheidung angehen wollte, was für meinen Mann alles andere als selbstverständlich war. Tibor hatte sich erst unmittelbar vor unserer Hochzeit taufen lassen, in Hof. Wie weit weg mir diese wunderbare Zeremonie nun schien, ein fernes Leuchten in dem finsteren Tunnel, in dem wir feststeckten. Genauso weit weg wie unser Vorhaben, unser Kind nicht taufen zu lassen, beide wollten wir das nicht. Die Kindertaufe ist zwar eine kirchliche Tradition, aber wir leben nicht nach Traditionen. Wir hatten beschlossen, das Kind sollte sich später einmal selbst entscheiden, als Erwachsener. Aber würde unsere Erdbeere je erwachsen werden?
»Ich bin Christin«, sagte ich zu Tibor, »aber das parke ich in meinem Unterbewusstsein. Ich muss mich an keine Dogmen halten, sondern nur an mein Gewissen. Ich finde meine Entscheidung nur in mir. Bitte versprich mir, dass auch du deine eigene Entscheidung findest. Du bist distanziert, du legst deine Hand nicht mehr auf meinen Bauch. Aber ich kann nicht distanziert sein, ich habe das Kind im Bauch. Ich kann nicht weglaufen. Ich muss mich dem Ganzen stellen. Bitte stell dich mit mir all dem, was vor uns liegt, auch wenn du das Kind nicht im Bauch hast.«
Genau diese Zusage wollte ich von Tibor, und genau das versprach er mir: Seine eigene Entscheidung zu treffen, nicht nur meine Entscheidung zu unterstützen. Ich sah ihm in die Augen und sagte: »Niemals will ich den Satz von dir hören: ›Egal, wie du dich entscheidest, du hast meine volle Unterstützung‹ – darauf kann ich verzichten! Jeder soll für sich entscheiden – und erst, wenn beide zu einem Entschluss gekommen sind, sagen wir es einander.«
Das einzig weitere Konstruktive, das wir an diesem Tag zustande brachten, war
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