Viereinhalb Wochen
Bewegung in Kontakt, die es bei uns in Deutschland in diesem Ausmaß noch nicht gibt – mit einem losen Zusammenschluss von Eltern mit schwerstbehinderten bis lebensunfähigen Kindern, die sich bewusst dazu entschlossen hatten, diese Kinder nicht abzutreiben, sondern auszutragen: sei es aus religiösen Motiven, aus Gewissensgründen oder aus dem Gedanken heraus, die eigene schwere Krise auf diese Weise am besten verarbeiten zu können. Stundenlang las ich in dazugehörigen Blogs, Erfahrungsberichten und Foren. An verschiedenen Stellen postete ich die Geschichte von Julius. Darauf meldete sich zu meiner großen Überraschung eine Schweizerin, die vor vielen Jahren in der gleichen Situation mit einer anderen Diagnose gewesen war. Ihr Statement war ehrlich und liebevoll zugleich:
Kinderwagen und Schwangere zu sehen IST schlimm. Doch wenn du die Wehen frühzeitig einleiten lässt und Julius stirbt, dann wird der Anblick von anderen Schwangeren und Kinderwagen dadurch nicht erträglicher. Sehr wahrscheinlich wird es dann noch schlimmer sein. Denn Julius wird nicht mehr da sein.
Für mich war dieser Kontakt Gold wert, denn über sie kam ich mit einer Amerikanerin in Kontakt, mit Susie. Die lebte damals in Neuseeland und hatte für ihren Sohn Joshua exakt dieselbe Diagnose bekommen wie wir für Julius:
occipitale Encephalocele.
Ich konnte es kaum fassen – die erste Mutter, deren Kind unter genau derselben Krankheit gelitten hatte wie Julius, treffe ich im Internet, und sie lebt exakt auf der entgegengesetzten Seite unseres Planeten! Susie schrieb mir viel von Joshua: Wie sie sich gleich nach der Diagnose entschieden hatte, das Kind auszutragen. Wie es ihr Sohn auf natürliche Weise lebend durch den Geburtskanal geschafft hatte, wie sie wenige Stunden nach der Geburt als Familie zusammen mit dem Neugeborenen nach Hause fuhren. Wie er drei Monate leben durfte, umsorgt von seinen liebevollen Eltern und seiner zwei Jahre alten Schwester. Auf dem Blog, den die Familie betreibt, konnte ich viele Bilder von Joshua sehen – mit einer Cele, die deutlich größer war als sein Kopf, stets von einem Verband geschützt und mit einer selbstgehäkelten Haube verpackt. Joshua starb nach 67 Tagen »und sieben Bonusstunden«, wie Susie geschrieben hatte, einen Tag nachdem die Cele geplatzt war.
Be strong & courageous. We’re not afraid. Not discouraged. The Lord, our God, is with us.
Das steht als Motto über dem Blog der Familie.
Sei stark und mutig. Wir haben keine Angst. Wir sind nicht entmutigt. Der Herr, unser Gott, ist mit uns.
Ich bewunderte Susie und ihren Mann Matt für ihren Mut, den ich in mir bisher noch vergeblich suchte. Ich bestaunte ihre Entschlossenheit, schon ein Jahr nach Joshuas Geburt ein weiteres Kind zur Welt zu bringen – mittlerweile haben die Eltern schon vier Kinder, inklusive Joshua, dem sie einen so himmlischen wie selbstverständlichen Platz einräumen – genauso wie ihren drei auf Erden weilenden Töchtern. Ich war beeindruckt von dieser Familie, aber ich wusste nicht, ob ich deren Vorbild folgen durfte, konnte, wollte.
Wir befassten uns intensiv damit, was es bedeutete abzutreiben, ganz abgesehen von den psychischen Folgen für die Mutter – wir wollten es rein medizinisch gesehen wissen. Nach der zwölften Woche, die ich freilich längst hinter mir gelassen hatte, spricht man von »Spätabtreibung«, die oft »medikamentös« ausgelöst wird: Dabei schluckt die Mutter ein für den Embryo tödliches Präparat, wenn das nicht bei fortgeschrittenen Schwangerschaften direkt in das Baby injiziert wird, da das Kind den Abbruch sonst überleben würde. Eine andere Möglichkeit besteht darin, lasen wir schaudernd, die Blutzufuhr der Nabelschnur zu unterbinden, um den Fötus sterben zu lassen – oder zu töten, wie man das eigentlich nennen muss. Danach muss die Frau das tote Kind auf normalem Wege auf die Welt bringen, wie die Geburt eines lebendigen Kindes. Ich fand und finde diesen Gedanken unerträglich, aber ich wollte und will dieses Vorgehen nach wie vor nicht verurteilen – jede Frau muss mit sich ausmachen, ob sie das ertragen kann. Jede Frau muss ihre eigene Einstellung dazu finden, und jede Frau muss selbst wissen, ob sie mit ihrer Entscheidung ein Leben lang auskommen kann.
Wir waren dankbar, dass sich so gut wie alle aus unseren Familien und aus unserem Freundeskreis an das Stillschweigen hielten. Tibor und ich waren uns gegenseitig eine große Stütze, boten dem anderen zu
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