Viereinhalb Wochen
Rückenmark eventuell operativ zurück in den Schädel schaffen und den mit einer Platte verschließen oder dass man auch noch unbekannte Behandlungsmethoden ausprobieren könne, aber dass in jedem Fall wohl eine schwere oder schwerste Behinderung bleiben würde …
Mir gelang es nur unter Aufbietung aller meiner Kräfte, mir all die chirurgischen Horrorszenarien in Ruhe anzuhören, wobei es mich kaum auf meinem Stuhl hielt.
»Aber wenn wir unser Kind, wenn es eigentlich ohne Überlebenschance ist, nur palliativ behandeln lassen wollen?«
Der Arzt runzelte die Stirn.
»Das kann ich Ihnen nicht garantieren, Frau Bohg, dass wir das leisten können. Ich kann nicht garantieren, dass im Moment nach der Geburt nicht jemand mit dem Neugeborenen in die Intensivstation läuft und etwas versucht, um dem Kind nach bestem Wissen und Gewissen zu helfen …«
Mehr musste er nicht sagen, um in mir die entsprechenden Bilder zu erzeugen: Wie ich als Frau in einem Kreißsaal liege und das Kind wird mir weggenommen und an Schläuche gehängt und auf einen Operationstisch verfrachtet und von Ärzten begutachtet und … Hier versagte mir meine eigene Vorstellung, und ich wollte nur noch fort von hier. Ich saß aber weitere fünf Minuten da und hörte mir die Ausführungen des Arztes an, nur aus Höflichkeit. Ich wusste in diesen Momenten längst, dass ich mich gleich verabschieden und nie mehr wieder in meinem Leben einen Fuß in diese Klinik setzen würde. Ich wusste, dass das nicht der Weg war, den ich mit Julius gehen wollte. Ich wusste, dass wir nicht in die Wissenschaft eingehen, sondern dass wir Julius ein Leben in Frieden bieten wollten, wie lange auch immer dieses Leben sein würde.
Noch benommen von den bedrohlichen Aussichten liefen Tibor und ich Hand in Hand aus den neonbeleuchteten Gängen des Klinikums in den wunderschönen Maitag hinaus, um uns erst einmal auf eine Bank unter einem prächtigen alten Baum im Park der Klinik fallen zu lassen. Wir waren wütend, traurig, und wieder ganz am Anfang: Eine palliative Betreuung unseres Kindes, die sein Leben einfach so lassen sollte, wie es war, gab es hier nicht. Wissen über seine Krankheit – gab es nicht. Hoffnung auf eine Heilung – nicht vorhanden. Eine Abtreibung erschien uns als ungeheuer brutale Maßnahme, vor der wir Angst hatten. Was sollten wir nur tun?
Stumpf blieben wir einfach im Park des Virchow-Klinikums sitzen und ließen das geschäftige Treiben um uns herum vorbeiziehen wie einen breiten Strom: die eiligen Ärzte, die Krankenschwestern auf Rauchpause, die noch unsicher ans Sonnenlicht tapsenden Patienten, der stete Strom von besorgt wirkenden Besuchern. Wir betrachteten all das, teilnahmslos und unfähig, uns in dieses Treiben einzureihen. Stunde um Stunde verging.
In meiner Verzweiflung griff ich nach meinem Handy und tippte die Nummer von Frau Fricke ein, unserer Psychologin vom »Sozialdienst katholischer Frauen«, doch ich bekam nur die Stimme eines Anrufbeantworters zu hören. Resigniert legte ich auf. Wieder verstrich die Zeit so zäh wie Honig, bis ich noch einmal das Telefon zur Hand nahm, um eine E-Mail zu schreiben:
Hallo Frau Fricke,
wir sind gerade aus dem Gespräch mit dem Neuropädiater gekommen und total am Ende. Sind wieder bei null mit unserer Entscheidungsfindung. Gibt es irgendeine Möglichkeit, noch heute zu kommen? Wir sind am Ende im Kopf. Hatte es grad schon telefonisch probiert, aber nur den AB dran.
Danke
C. Bohg
Danach verfasste ich noch eine E-Mail, diesmal an unser Pastorenehepaar aus Hof, an Erika und Watson:
Sind heute beim Neuropädiater gewesen, der alle (!!) Babys mit so ähnlichen Befunden wie unseren in den letzten fünfzehn Jahren in Berlin gesehen und betreut hat. Einen so komplizierten Befund hat er in all den Jahren nicht gesehen. Kann er ja auch nicht – er hat ja nur die Babys zu Gesicht bekommen, die Überlebenschancen hatten und nicht abgetrieben worden sind.
Wir sind wieder bei null angekommen. Sitzen stumpf im Park seit Stunden auf einer Bank. Alles tot im Kopf. Nicht in der Lage zu denken, schon gleich gar nicht fähig, etwas zu entscheiden.
Das Baby wäre auf jeden Fall gelähmt, ist nur die Frage, ab wo. Ist doch zum Kotzen. Wir hatten gehofft, er sagt uns heute, dass solche Babys bei der Geburt sterben. Das wäre aber nur so, wenn der Teil vom Gehirn defekt ist, der für Atmung zuständig ist. Oder wir verbieten den Ärzten, dass sie den Kopf nach der Geburt zumachen, und lassen es zu
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