Viereinhalb Wochen
war für uns beide die Erlösung, zumindest fürs Erste. Wir waren nicht an die See gefahren, um uns zu entscheiden, nicht um zu diskutieren, nicht um zu einer Lösung zu kommen. Wir waren nur hier, um Luft zu holen. Um Kraft zu schöpfen, um weg zu sein aus unserer Tränenhöhle im Prenzlauer Berg. Das brauchten wir jetzt.
Wir traten auf unseren Rädern so lange gegen den Wind in die Pedale, bis ich nicht mehr konnte, und das passierte viel früher als vor meiner Schwangerschaft, wie ich erstaunt feststellen musste. Ich musste die ganze Zeit sehr aufrecht im Sattel sitzen, weil mich mein kleines Bäuchlein schon daran hinderte, wie üblich nach vorn gebeugt zu fahren. Sogar den obersten Knopf meiner Jeans ließ ich offen, weil mir so langsam alles ein wenig eng wurde.
Wir wanderten stundenlang über den Sandstrand, wir lagen in der auch hier oben schon kräftigen Maisonne und picknickten in den Dünen. Alles war wie mit einem matten Film überzogen. Es sah zwar schön aus, aber es war keine schöne Zeit, sondern ein verzweifeltes Durchatmen, ein besinnungsloses Entspannen. Immerhin hatten wir beide eine gute Zeit zusammen, weg aus dem Lärm der Stadt, weg von den vielen schwangeren Bäuchen, die sich mir auf meinen täglichen Wegen entgegenstellten.
Zum ersten Mal seit der schrecklichen Diagnose hatte jeder von uns Zeit für sich. Ich lag mutterseelenallein am Strand und schrie meinen Schmerz in den Wind und ins Meer hinaus. Ich schrie Gott an, aus voller Kehle. Ich versuchte, mit ihm zu ringen, doch es zeigte sich niemand. Ich versuchte mir einen Reim auf all das zu machen, was ich erlebt hatte, aber ich fand keinen – vielleicht, weil es keinen gibt. Mein Gottesbild war wie eine Statue auf den Boden gefallen und dort in tausend Teile zerborsten. Ich selbst lag zerbrochen am Strand, spürte nirgendwo Halt.
Warum?
Nur dieses eine Wort geisterte stundenlang durch meinen Kopf.
Warum? Warum wir? Nein, warum?
Ich fühlte, dass ich zumindest die Diagnose akzeptieren musste. Nun waren keine Wunder mehr zu erwarten, das wusste ich, keine Irrtümer. Hier war keine Hoffnung mehr, und leider trotzdem keine Gewissheit. Wir wussten nicht, ob Julius wirklich gleich stirbt nach der Geburt. Wir wussten nicht, ob das Flämmchen seines Lebens nur kurz aufflackern oder sich jahrelang, jahrzehntelang verzehren würde in Schmerz und Hilflosigkeit. Ich verstand die Eltern von behinderten Babys vollkommen, die sich diesen Fragen vielleicht nicht erst aussetzten, sondern sofort nach der gesetzlichen Bedenkfrist abtrieben.
Wenn auch Watson, Erika, Sebastian und Susel gesagt hatten, dass sie für uns beten würden, dass sie uns einschließen würden in ihre Fürbitten, so liefen nun auch diese gutgemeinten Vorsätze an mir vorbei. Betet, dachte ich, hofft, aber ich kann mir nicht die Knie wundbeten. Ich habe nicht die Kraft, jetzt die Superchristin zu spielen. Ich werde mein Schicksal annehmen und damit leben, dachte ich, oder ich werde das zumindest versuchen. Mehr, sagte ich zu mir selbst, schaffst du nicht.
Ich rang mit Gott in diesen Tagen. »Kannst du den Zwerg nicht einfach zu dir holen?«, fragte ich ihn. »Musst du uns in so ein Psychodrama hineinschicken?« Damals betete ich meistens noch auf Englisch, ich war das so gewohnt gewesen während der letzten Jahre, und so sprach ich auf Englisch mit Gott, an der Ostseeküste.
»God, can You not please take him back?«
»Am I not already preparing you for that?« War das eine Antwort von ihm gewesen, oder waren das meine Gedanken?
Ich fühlte mich wie Hiob, die Figur aus dem Alten Testament, der von Gott vor eine schwere Prüfung nach der anderen gestellt wurde, weil der Teufel Gott gegenüber behauptet hatte, dass Hiob nur gläubig sei, weil es ihm so gut gehe. Hiob hingegen beharrte auch im Leid auf seinem Glauben, doch er haderte auch mit Gott, er forderte ihn heraus, er suchte nach Schuld, er klagte an. Genauso fühlte ich mich auch, trotzig, anklagend, wütend. Das Buch Hiob war das Einzige, was ich während all dieser Wochen in der Bibel las. Es war die einzige Schrift, zu der ich Zugang fand, in der ich mich selbst wiederfinden konnte.
Ich zeterte und haderte und heulte jedoch nicht nur allein am Strand, ich war auch mit Tibor dort. Dann sahen wir aus wie ein durchschnittliches Urlauberpärchen, mit unserer Decke und unseren Wasserflaschen, wie wir einander liebkosten und uns einander nichts anderes als immer wieder den Namen unseres Kindes vorsagten: Julius Felix.
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