Viereinhalb Wochen
Beide ertappten wir uns bei dem finsteren Gedanken, ob wir wirklich unsere beiden schönsten Namen verwenden sollten, auch wenn das Kind todgeweiht ist? Sollten wir die nicht für das nächste Kind aufheben? Für ein Kind, das leben wird? Beide schüttelten wir diesen Gedanken so schnell wieder ab, wie wir nur konnten. Natürlich würden wir diese beiden Namen nehmen, die besten, unsere liebsten Namen. Wir wollen diese Namen schließlich nicht irgendeinem Kind geben, sondern unserem Wunschkind.
Wir waren im Strudel unserer widersprüchlichen Gefühle gefangen, heillos darin verstrickt. Nein, es waren nicht die Gefühle, musste ich feststellen, es war der hilflos durch unsere Köpfe spukende Intellekt, der zu keiner fertigen Idee finden konnte, zu keinem Entschluss. Aber das war nur der Intellekt, nur der, das fühlte ich. Mein Herz schrie laut dagegen an: In dir ist ein Mensch! Ein Baby! Dein Baby! Dein Sohn! Es tobte in mir wie mit Stimmen, ein Ringkampf, der nie verstummte, vor allem in den Nächten nicht, wenn ich mich schlaflos im Bett wälzte, ausgeliefert meinen rasenden Gedanken und dem Meeresrauschen und dem Wind, der draußen durch die Bäume vor dem Strand fuhr.
Am nächsten Morgen radelten wir durch ein Wäldchen, Tibor, schneller als ich, vorneweg. Unter dem schon dichten, frisch grünen Blätterdach bremste ich abrupt, weil ich den Kuckuck rufen hörte, so laut und nah wie schon lange nicht mehr.
»Horch, Julius, das ist der Kuckuck!«
Ich sah in die Baumkronen hinauf, konnte den Vogel aber nirgendwo entdecken. Nur seinen Ruf konnte ich hören, und den Nachhall meiner Stimme. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Du sprichst mit deinem Kind! Die Distanz ist weg! Das Nicht-mehr-schwanger-sein-Wollen ist weg! Ich musste lachen, über mich selbst und über meine Erkenntnis. Ich hörte noch einmal auf den Kuckucksruf, Tibor war inzwischen zu mir zurück geradelt und stand lauschend neben mir. Hatte ich eben eine wichtige Entdeckung gemacht? War mir etwas klargeworden?
Auch in Tibor schien sich in diesen Tagen ein Knoten zu lösen. Er streichelte mir wieder über den Bauch. Er redete wieder mit dem Baby, wie er das auch vor der Diagnose selbstverständlich getan hatte, mit seinem Kopf auf meinem Bauch. Er schien die Angst vor einer Bindung an unseren Sohn verloren zu haben. Als ich ihn darauf ansprach, sagte er mir auch, dass das so sei. Das waren schöne Gefühle, die uns hätten aufatmen lassen können, aber so weit waren wir noch nicht, denn in unseren Köpfen brannte eine Frage: Was sollten wir tun? Wir waren beide so verzweifelt und so wütend – vor solch eine Entscheidung sollte niemand gestellt werden! Wer sind wir denn, dass wir Richter über Leben oder Tod sein sollen? Wir konnten noch so schön radeln und am Strand liegen und aufs Meer schauen und wussten doch immer, dass diese Entscheidung gefällt werden musste, wie es weitergehen sollte mit unserem Kind. Doch so eine Entscheidung war noch lange nicht in Sicht, und so einer Entscheidung kamen wir auch am Meer nicht näher, in dieser schönen wie auch traurigen, in dieser zähen und auch ergebnislosen Zeit dort. Uns blieb nichts anderes übrig, als immer wieder unser Mantra aufzusagen:
»Wir schaffen das zusammen, in guten wie in schlechten Tagen.«
So hatten wir uns das einander versprochen, in unserem Ehegelübde. So sollte es jetzt auch kommen. So sollte es sein.
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Zurück in der Tränenhöhle
I n Berlin fanden wir uns sofort in der gleichen Mühle wie vor den Tagen an der See wieder: zwischen dem Spießrutenlauf durch einen der kinderreichsten und daher für uns ungeeignetsten Bezirke Deutschlands und dem Marathon durch alle nur denkbaren Beratungsstellen, im Internet und auch in der wirklichen Welt. Wir wollten einfach nur jemanden finden, der uns Informationen über die Krankheit unseres Sohnes geben konnte. Irgendjemanden, der sagt, ja, so einen Fall kenne ich auch. Wir stießen auf die ASBH , die »Arbeitsgemeinschaft Spina Bifada und Hydrocephalus«, doch zu unserem großen Erstaunen hatten die Leute dort noch nie diese Diagnose gehört. Wir wurden von einer Beratungsstelle zur nächsten weitergereicht, aber immer erfolglos. Wir stießen auf das Phänomen der »Anencephalie« – eine ähnliche Störung wie bei Julius, bei der allerdings viel klarer ist, dass das Baby ziemlich rasch nach der Geburt stirbt.
Über das Internet fanden wir in den USA ein Forum zu diesem Thema und kamen darüber mit einer
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