Viereinhalb Wochen
eine Art von medizinischer Behandlung, deren wichtigstes Ziel nicht die Heilung einer ohnehin unheilbaren Krankheit ist, nicht die Wiederherstellung von Körperfunktionen, für die der Patient keine Voraussetzung mehr hat, sondern die beste Pflege eines Todkranken, die ihm ein möglichst schmerzfreies Weiterleben ermöglichen soll – oder einen möglichst sanften Tod. In der Palliativmedizin, das erfuhr ich von Noemi, geht es nicht ums Heilen, sondern ums Lindern von Schmerzen. Nicht um Forschung, sondern um Begleitung hin zu einem menschenwürdigen Sterben.
Ich horchte auf: Daran hatten wir bis zu diesem Telefonat noch nie gedacht! Bis dahin waren durch unsere Köpfe immer nur Schreckensbilder über Abtreibung und hochtechnisierte Intensivmedizin geflimmert. Wir hatten Gynäkologenstühle vor uns gesehen, Operationssäle, Intensivstationen und Hightech-Betreuung in kalten Krankenhausräumen – und nun gab es einen neuen Begriff zu entdecken.
Zusätzlich gab mir Noemi auch viele praktische Ratschläge: »Lebt so intensiv mit dem Zwerg, wie ihr nur irgendwie könnt, solange er noch da ist, egal, ob er noch im Bauch ist oder schon geboren. Wenn er geboren ist, dann macht so viele Fotos wie nur möglich, das werden eure wertvollsten Erinnerungsstücke sein. Nehmt die Handabdrücke von dem Kleinen, nehmt die Fußabdrücke – nehmt alles, was ihr bekommen könnt, am Ende wird euch wenig genug bleiben von eurem Kind.«
Kurzzeitig gab mir diese neue Aussicht wieder Kraft, doch die hielt nicht lange an: Schon Minuten später fand ich mich im Wohnzimmer kniend wieder, wimmernd.
»Mein Baby! Mein Baby!«
Wieder kam es mir vor, als würde mir jemand den Boden unter den Füßen wegziehen.
Tibor war eine Runde um den Block gegangen, um etwas Luft zu holen. Ich konnte nichts tun, außer mir das Hirn zu zermartern über sinnlose Fragen wie die, ob Gott wohl ein Wunder vollbringen könne? Ob er das machen wolle? An unserem Kind?
Am Nachmittag fuhren wir widerwillig zu H&M in der Schönhauser Allee, aber was blieb mir anderes übrig: Ich war im 4 . Monat und bekam meine Jeans nur mehr über meinen Bauch, wenn ich den obersten Knopf offen ließ und ihn am Knopfloch mit einem Haargummi festzurrte, der eigentlich schon zu kurz war für diese Prozedur. Also gingen wir in die »Mama-Abteilung«. War das ein Spießrutenlauf für mich – all die glücklichen Gesichter zu sehen, die stolz vor sich hergetragenen Bäuche, das fröhliche Geplauder, die vielen Kinder an den Händen der Mütter. Und dazwischen wieder ich mit meinem geliebten, todgeweihten Julius unter dem gebrochenen Herzen!
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Der Angriff
I nstinktiv legte ich meine Hände schützend auf den eigenen Bauch, als ich, wie immer zusammen mit meinem Mann, einem neuen Arzt gegenübersaß – einem Neuropädiater oder Kinderneurologen im Virchow-Klinikum der Berliner Charité. Instinktiv fühlte ich eine Bedrohung, die von dem Ambiente in diesem Zimmer für Julius ausging, von dem riesigen Apparat um uns herum, den endlosen Gängen, Zimmerfluchten und Gebäudeansammlungen. Ich war durch und durch verkrampft und überlegte, wie sich diese Anspannung wohl auf Julius auswirken würde? Während wir noch auf den Arzt warteten, legte auch Tibor seine Hände auf meinen Bauch und redete mit seinem Sohn:
»Keine Angst, Kleiner, dir passiert hier nichts, wir wollen nur dem Doktor ein paar Fragen stellen …«
Wir waren in das Sozialpädiatrische Zentrum der Klinik gekommen, um mehr darüber zu erfahren, wie unser Leben mit Julius aussehen könnte, wenn er denn eine Geburt überleben sollte.
Die Antworten fielen jedoch alles andere als befriedigend aus: Der Arzt erzählte uns, dass er zwar schon seit fünfzehn Jahren hier arbeite, aber noch nie eine solche Diagnose gesehen habe. Als wir ihn fragten, wie denn die ersten Tage unseres Sohnes nach einer Geburt aussehen würden, ob man hier wählen könne, ob man palliativ oder intensivmedizinisch weiterbetreut würde, schüttelte der Mediziner nur den Kopf: »Wir würden in der neunundzwanzigsten Woche einen Kaiserschnitt machen und uns dann erst mal das Kind ansehen …«
Spätestens in diesem Moment ging in mir eine ganze Reihe von Alarmglocken los – es ging hier also vor allem um die Erforschung einer fast unbekannten Krankheit. Doch wozu sollte das gut sein, wenn das Kind todgeweiht war?
Hier musste der Arzt zugeben, dass er das nicht genau sagen könne. Er sprach davon, dass man das ausgetretene Gehirn und
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