Viereinhalb Wochen
jeder Tages- und Nachtzeit die Schulter zum Weinen. Wir beide waren unzertrennlich und so gut wie rund um die Uhr beisammen. Wir waren ein Herz und eine Seele, aber wir waren auch schonungslos offen zueinander, was uns nicht immer leichtfiel, weil wir dadurch nicht mit unserer Verzweiflung und auch nicht mit unserem Ärger hinter dem Berg bleiben konnten, was für den jeweils anderen manchmal schwer zu ertragen war. Als unsere Hauptaufgabe empfand ich damals aber weniger diese Ehrlichkeit als vielmehr unser schlichtes Funktionieren: dass wir alle Termine, die wir wegen unseres Kindes hatten, wahrnehmen, unsere Nachforschungen bezüglich der Krankheit vorantreiben, um zu einer Entscheidung über das Schicksal von Julius kommen zu können.
Oft fiel es mir schwer, so auf uns selbst zurückgeworfen zu sein, obwohl ich wusste, dass es das Beste für uns alle war. Trotzdem hatte ich mehrere Male das Telefon in der Hand, um meine Mutter anzurufen. Ein Knopfdruck hätte genügt, um die Verbindung herzustellen, und ich tat es jedes Mal nicht. Ich wusste, dass die verordnete Funkstille beiden Seiten Leid zufügte, aber ich konnte nicht anders. Ich wusste, dass sie mir nicht hätte helfen können. Ich wusste auch, dass ich sie mit meinen düsteren Gedanken und meiner Ratlosigkeit noch mehr beunruhigt hätte, als sie es sicherlich ohnehin schon war. Im Nachhinein rechne ich ihr hoch an, dass sie während der gesamten Zeit mitgelitten und trotzdem unseren Wunsch nach Zurückgezogenheit respektiert hat.
Wie sehr meine Nerven zum Zerreißen gespannt waren, merkte ich eines Tages, als Tibor wegen eines Bewerbungsgesprächs seit vierzehn Uhr in Berlin unterwegs war und auch am späten Nachmittag noch kein Lebenszeichen von sich gegeben hatte. Ich wählte seine Handynummer, unzählige Male tippte ich auf die Wahlwiederholung, doch er meldete sich nicht. Ruhelos lief ich in der Wohnung auf und ab, zwischen Heulen und Schimpfen, und wieder tippte ich auf die grüne Taste – nichts! Ich verlor mich in Selbstvorwürfen: Warum hatte ich ihn überhaupt gehen lassen? Hatte ich ihm nicht eindringlich genug gesagt, dass er noch keine Bewerbungsgespräche führen müsse, dass er den Termin verschieben solle – aber damit war ich nicht durchgekommen bei Tibor.
»Doch, ich mache das für uns«, hatte er einfach gesagt, »das ist für unsere Familie!«
Kann ein Mann ein großartigeres Statement abgeben in dieser Situation? Ich bewunderte ihn so sehr!
Als es auf den Abend zuging, war aber mein Stolz auf Tibor längst verflogen, und vor meinem inneren Auge tanzten nur mehr bedrohliche Bilder: von Rowdies zusammengeschlagene U-Bahn-Passagiere, Reste schauerlicher Verkehrsunfälle, Opfer brutaler Verbrecher. Als es kurz vor sieben war und ich ihn immer noch nicht erreicht hatte, verlor ich die Nerven. Wie ein Häufchen Elend saß ich da und wollte eben die Nummer der Firma wählen, bei der er sich beworben hatte, als er anrief. Überglücklich verkündete er am Telefon, dass er ein wunderbares Gefühl hatte und am Nachmittag anstelle eines Zweitgesprächs gleich einen Probetag hatte absolvieren dürfen. Im ersten Moment konnte ich mich nicht mal richtig freuen, sondern heulte drauflos wie ein Schlosshund, so dass Tibor gleich erschrocken nachfragen musste, was denn um Himmels willen passiert sei – und ich konnte nichts anders als stammeln: »Ich habe solche Angst, dich zu verlieren …«
Am nächsten Morgen saßen wir wieder vor unseren Computern und recherchierten, was das Internet hergab, immer noch auf der Suche nach näheren Informationen über die Krankheit unseres Sohnes. Über viele Ecken bekam ich Kontakt zu Noemi, einer Mutter in der Nähe von Stuttgart, deren Kind einen ähnlichen Defekt gehabt hatte wie Julius –
Anencephalie,
eine offene Schädeldecke. Noemi war die erste Mutter, mit der ich nicht E-Mails schrieb, sondern mit der ich tatsächlich sprechen konnte, wenn auch nur am Telefon. Ich war für sie eine wildfremde Frau, aber sie erzählte mir trotzdem zwei Stunden lang von ihrer Odyssee durch Arztpraxen und Krankenhäuser, an deren Ende sie sich entschieden hatte, nicht abzutreiben. Sie hatte das Gefühl, dass die Ärzte ihrem Sohn weniger halfen, ihn vielmehr als Forschungsobjekt betrachteten, weil dessen Krankheit sehr selten war, wenn auch lange nicht so selten wie die von Julius. Von ihr hörte ich zum ersten Mal ein neues Wort, das für uns viel Bedeutung bekommen sollte:
Palliation.
Das ist die Bezeichnung für
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