Viereinhalb Wochen
›ja‹ bezüglich des Geschlechts des Kindes angekreuzt …«
Sie stutzte ungehalten, war genervt: »Moment, da muss ich noch mal nachsehen.«
Ich hörte Papiergeraschel, weil sie unsere Akte wohl längst auf die Seite gelegt hatte, und ich wusste, dass ihr die Antwort egal war – ganz im Gegensatz zu mir. Ich war stinksauer.
»Männlich.«
Sie sagte das ohne jede Betonung, als ginge es um eine Auskunft über eine Telefonnummer. Oder um ein sowieso sinnloses, weil todgeweihtes Wesen. Doch sind wir nicht alle todgeweiht?
Mein Herz machte einen gewaltigen Satz, sofort und ohne Vorwarnung. Ich kam gerade noch dazu, grußlos aufzulegen, denn ich musste plötzlich heulen und lachen und in die Höhe springen auf einmal.
»Tibor! Es ist ein Junge! Es ist ein Junge! Unsere Erdbeere ist ein Junge!«
Auch Tibor sprang auf, jubelte. Wir fielen einander in die Arme, heulten noch mehr. Von Anfang an hatte ich mir einen Jungen gewünscht. Ich weiß nicht, warum, aber das war von Beginn der Schwangerschaft an schon so gewesen, gefühlsmäßig, durch keine rationalen Überlegungen bestimmt.
Unser Ausbruch dauerte ein paar Minuten, dann lagen wir schon wieder im Bett, diesmal nicht verzweifelt, sondern überlegend: Wie sollte der Junge bloß heißen? Bis dahin hatten wir es noch nicht gewagt, unsere Ideen voreinander auszusprechen, aber nun war es so weit:
»Julius«, schlug Tibor vor, »und als Zweitname Felix.«
Er dachte wohl in jenem Moment nicht daran, dass das lateinische
Felix
»der Glückliche« heißt.
Was soll ich sagen? Ich war einverstanden, auf der Stelle.
Julius Felix Bohg. So sollte unser Sohn heißen.
Doch dann hatte uns die Realität wieder, die andere Wirklichkeit: Wir saßen vor unseren Laptops und surften das Internet rauf und runter, ob wir irgendetwas fänden zu unserer Diagnose. Erfahrungsberichte, Heilungsmethoden, Einschätzungen, Foren – aber da war nichts. Also schrieb ich eine E-Mail an unser Pastorenehepaar in Hof:
Liebe Erika, lieber Watson,
es ist alles so sinnlos. Wir sind so sehr in einem Loch. Wir haben erfahren, dass wir einen kleinen Sohn haben. Das erfüllt uns mit so großer Freude. Und im gleichen Moment stürzen wir noch tiefer in die Verzweiflung. Eine Chromosomenstörung ist ausgeschlossen. Das wissen wir jetzt auch. Das heißt, so morbid das klingt – es gibt keine hundertprozentige Sicherheit, dass das Baby noch vor oder bei der Geburt stirbt. Also sind wir weiter ratlos.
Ich frage mich, was Gott wohl gedacht hat, als wir ihm in den letzten drei Monaten JEDEN Tag für das Baby gedankt haben und dafür, dass es gesund ist. Warum hat er es nicht gleich in dieser Zeit zu sich geholt?
Ich muss mich jetzt grad mal mental leeren, damit ich nicht durchdrehe.
Ich weiß, dass auch Ihr keine Antworten habt. Das ist ok.
Danke für Eure Gebete und Zuspruch.
Wir sind so unendlich traurig. So verzweifelt.
Eure drei Bohgs
Eure drei Bohgs. Das schrieb sich so leicht, so selbstverständlich, als wären wir immer schon zu dritt gewesen. Die Antwort kam umgehend:
Ihr lieben drei Bohgs,
ein Söhnchen ist es also!
Ihr habt recht! Antworten haben wir auch keine, aber wir wenden uns immer wieder an den, der alle Antworten hat. Dem tragen wir Eure Anliegen vor. Er wird Euch helfen in der Not.
Dass Ihr verzweifelt seid, ist in Eurer Lage verständlich, und wir hoffen, dass Ihr inneren Frieden findet. Auf die Frage »warum, Gott?« bekommt man in den seltensten Fällen eine Antwort, aber trotzdem … Er hat alles in der Hand.
Wir haben für Euch gebetet. Natürlich beschäftigen Euch die Gedanken: »Sollen wir ein behindertes Kind großziehen?« Das ist verständlich. Das würde uns genauso gehen.
Gott wird Euch Frieden geben über Eure Entscheidungen oder darüber, keine Entscheidungen zu treffen.
Das ist unser Gebet für Euch.
Wir sind auf jeden Fall dauernd in Gedanken und im Gebet bei Euch.
Wenn’s mal zu schwer wird, dann schreibt Euch alles von der Seele. Das allein hilft oft auch schon.
Wir haben Euch so lieb!
Eure Erika
Das war eine schöne Antwort, die guttat und weh zugleich: Gut, weil ich wusste, dass außerhalb unserer dunklen Höhle Menschen waren, die in Liebe an uns dachten. Weh, weil mir wieder klarwurde, dass uns keiner dieser Menschen helfen konnte. Was hatte sich Gott nur gedacht bei alldem, wo wir doch jeden Abend alle unsere vier Hände auf meinen Bauch gelegt und gebetet hatten: »Du wachst über dem Baby.«
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Kuckucksruf
D as Meer
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