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Viereinhalb Wochen

Viereinhalb Wochen

Titel: Viereinhalb Wochen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Bohg
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Daher ist es wichtig, sorgsam vorzugehen, um zu einem tragfähigen Entschluss zu kommen, den Sie möglichst auch noch Jahre später vor sich vertreten können.«
    Doch noch war die Zeit der Entscheidung nicht gekommen, noch herrschte die Zeit des Klagens, des Schuldbewusstseins und der Selbstzerfleischung. Ich berichtete von den für mich unbeantwortbaren Fragen, die mir Nacht für Nacht wie von einem großen, ekelhaften Monster entgegengeschleudert wurden:
    Hast du Schuld? Hast du etwas falsch gemacht? Stimmt etwas nicht mit deinen Genen? Hast du zu spät mit der Folsäure angefangen? Hast du nicht gesund genug gelebt?
    »Sie können nichts dafür. Es ist nichts, was Sie oder Ihr Mann getan oder nicht getan haben. Sie trifft keine Schuld!«
    Damit sprach die Psychologin eine große Sache sehr einfach aus. Eine große Sache: Wir waren unschuldig. Eine große Sache, an der ich mir immer noch die Zähne ausbiss, sosehr ich mich auch anstrengte, das nicht zu tun.
    Hättest du das Antibiotikum nicht nehmen sollen zu Beginn der Schwangerschaft? Bist du zu gestresst gewesen? Hätten wir noch warten sollen?
    Die Stimmen waren nicht wegzudiskutieren, das war das Schlimme. Kein Arzt, mit dem ich bis dahin gesprochen hatte, konnte mir sagen, warum mein Sohn ein Loch im Kopf hatte. Keine noch so spezialisierte Seite im Internet konnte mir Auskunft darüber geben, warum die Krankheit ein Kind trifft und eine Million anderer Kinder nicht. »Es ist eine Laune der Natur« – das hatte mir Professor Chaoui noch mit auf den Weg gegeben. Das war für mich immerhin eine neutrale Erklärung, denn für die Launen der Natur fühlte ich mich nicht persönlich verantwortlich. Eine zufriedenstellende Erklärung war das aber trotzdem nicht für mich: Mein Kind sollte nichts sein als eine Laune der Natur? Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Etwas so Wertvolles wie ein Mensch sollte bloß eine Laune sein? Damit wollte ich mich nicht abfinden. Wahrscheinlicher kam mir der Gedanke vor, dass Julius dem Willen Gottes entsprach. Nur – warum hatte er ausgerechnet ihm diese Prüfung auferlegt? Warum ausgerechnet uns? Tausenden und Abertausenden Eltern schenkte er gesunde Kinder, auch denen, die sich nicht genug um sie kümmern, aus welchen Gründen auch immer, deren Mütter während der Schwangerschaft rauchen, Alkohol trinken, Drogen nehmen – und wir, ausgerechnet Tibor und ich, die wir alle unsere Kraft und alle unsere Liebe in dieses Kind legen wollten, ausgerechnet uns strafte er mit einer infausten Diagnose? Das konnte ich nicht verstehen, und das sagte ich auch unserem Gegenüber.
    Die Psychologin hörte uns immer weiter zu, bis sie in unseren Tränenstrom, in unser offensichtliches Leid hinein sprach: »So wie ich Sie beide hier heute sehe, werden Sie noch ein, zwei Wochen, vielleicht noch ein paar Tage mehr mit sich ringen, und dann werden Sie zu Ihrer Entscheidung gekommen sein.«
    Ich riss die verweinten Augen auf und starrte sie an, fassungslos, ohne etwas sagen zu können, und Tibor ging es nicht anders. Frau Fricke ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen.
    »So, denken Sie …«, entfuhr es mir, »wir grübeln ja schon zwei Wochen, aber wir haben nichts. Wie sollen wir dann in zwei Wochen zu einer Entscheidung kommen? Wie sollen wir in einem Monat zu einer Entscheidung kommen? Wie soll uns das je gelingen?«
    Ich konnte mir keine Entscheidung vorstellen, in diesem Moment, und ich konnte mir auch keinen Weg dahin vorstellen, doch die Psychologin blieb bei ihrer gelassenen Zuversicht.
    Die Beratung war schon fast vorbei, als mir noch eine letzte Frage einfiel: »Kennen Sie ein Krankenhaus in Berlin, wo Neugeborene wie unseres palliativ behandelt werden?«
    Zu meiner Überraschung musste Frau Fricke keinen Moment nachdenken über ihre Antwort – die kam wie aus der Pistole geschossen: »Rufen Sie Dr. Michael Abou-Dakn an, den Chefarzt der Gynäkologie im St. Joseph Krankenhaus, und machen Sie einen Termin mit ihm aus. Richten Sie ihm schöne Grüße aus von mir«, fügte sie noch hinzu, »er wird Sie gut beraten.«
    Ich nickte. Das klang nach einem handfesten Ratschlag in einem Meer von Unsicherheiten, Fragen und Ungewissheiten. Wir hatten die Stunde, die unsere Beratung dauern sollte, längst überzogen, ohne dass uns das aufgefallen wäre. Nur mühsam konnten wir uns losreißen und verabschieden. Ratlos und doch getröstet verließen wir das Büro, das in einer normalen Erdgeschosswohnung in einem

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