Viereinhalb Wochen
normalen Berliner Mietshaus untergebracht war, so unspektakulär wie einfach. So sympathisch, als wäre man bei Freunden in der Wohnung eingeladen gewesen.
Nachdenklich gingen wir unter blühenden Bäumen Richtung U-Bahn, mit den Gedanken weit weg von den Freuden dieses wieder einmal perfekt strahlenden Frühlingstages. Noch zwei Wochen, hatte sie gesagt, das hallte in meinem Kopf nach.
»Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen«, sagte Tibor.
Ich sah meinen Mann an: »Ich auch nicht.«
Es war eine Vorstellung, die noch zu weit weg war für uns, damals, unter den blühenden Bäumen.
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N och am selben Tag rief ich im St. Joseph Krankenhaus an, und tatsächlich bekam ich einen Termin beim Chefarzt der dortigen Gynäkologie und Geburtshilfe – allerdings nicht sofort, sondern erst in der nächsten Woche. Danach gingen wir wieder los, um ein paar Besorgungen zu machen, unter anderem auch in einer großen Buchhandlung. Als Tibors Telefon dort klingelte, wollte er zuerst nicht rangehen, doch ich drängte ihn dazu – vielleicht hatte es mit seinen Bewerbungen zu tun. Tatsächlich war das der entscheidende Anruf: Seine zukünftige Chefin war am Apparat, Tibor hatte seinen Job als Frontend-Developer bei einem großen Berliner Radiosender in der Tasche. Gott sei Dank sollte er erst am 1 . Juli anfangen – also blieb uns noch Zeit zum Nachdenken, zum Trauern, zum Wohnungsuchen. Aber erst einmal hieß es umarmen, feiern. Und später dann auch losheulen, was zu der Zeit bei uns zu jedem Ereignis automatisch dazuzugehören schien. Zu Hause köpften wir eine Flasche Kindersekt zusammen mit den anderen Bewohnern der WG , denn ich trank nach wie vor keinen Alkohol. Ich aß auch keine Süßigkeiten, trank keinen Schwarztee und versuchte mich mit viel Obst und Gemüse gesund zu ernähren. Wozu eigentlich, fuhr es mir ab und an durch den Kopf – es war ein Gedanke, den ich jedes Mal zornig zur Seite schob: Hatte Julius nicht das Recht, das Beste an mütterlicher Fürsorge zu bekommen, das ich ihm bieten konnte?
Dass auch ich selbst Behandlung brauchte, hatte ich vergessen. Das fiel mir wieder ein, als ich meinen nächsten Routine-Frauenärztin-Termin hatte, zur Schwangerschaftskontrolle. Bezüglich Julius gab es nicht viel zu kontrollieren, was traurig genug war, aber die Ärztin konnte wenigstens nachsehen, ob mit mir alles in Ordnung war: Eisenwerte, Blutdruck, diese Dinge eben.
Als wir in die Praxis kamen, sah ich, wie die Schwester uns mit traurigen Augen ansah. Dieses Mitgefühl rührte mich, genauso wie ihre Frage: »Haben Sie sich schon entschieden?«
Nein, hatten wir nicht.
»Familie Bohg bitte zur Untersuchung!«
So rief die Ärztin meinen Mann und mich auf, und schon standen auch mir die Tränen in den Augen. Wenigstens konnte ich damit keine werdenden Mamas verschrecken, denn die Ärztin hatte unseren Termin vernünftigerweise so gelegt, dass zur selben Zeit keine anderen Schwangeren in ihrer Praxis waren.
»Familie Bohg!«
Wie schön das immer noch klang, wie zuversichtlich und wie komplett – und doch: wie traurig, mit einem todgeweihten Familienmitglied!
Die Ärztin sprach sehr verständnisvoll mit uns, sie erzählte sogar von sich selbst, von eigenen Schicksalsschlägen, was alles andere als selbstverständlich ist während einer Sprechstunde.
»Frau Bohg«, sagte sie dann, »wenn Sie meine Tochter wären, würde ich Ihnen raten, die Schwangerschaft abzubrechen.«
Damit war die angenehme Stimmung für mich wie mit einer Handbewegung weggewischt. Ich glaube, mir entglitt das Gesicht.
»Wie bitte?«
»Was Sie Ihrem Körper, Ihrer Psyche zumuten, das müssen Sie sich gut überlegen …«
Sie meinte das liebevoll, fürsorglich, aber so kam es bei mir nicht an, denn ich merkte, wie in mir alles um mein Baby kämpfte, wie ich wütend wurde auf die Ärztin. Ich hatte das nicht vor, ich war mir dessen nicht einmal bewusst, es passierte einfach.
Ich sammelte mich und erwiderte halbwegs freundlich: »Das ist mein Kind, und über das Kind werde ich entscheiden, niemand sonst. So weit bin ich aber noch lange nicht …«
Die Frau ruderte sofort zurück, stammelte etwas von »selbstverständlich« oder »das ist natürlich klar«, ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Ich war zu aufgebracht, um ihr genau zuzuhören. Ich glaube, sie entschuldigte sich sogar, und wir brachen auf, da unsere Sprechstunde ohnehin schon zu Ende war.
Unten auf der Straße fragte ich Tibor, wie
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