Viereinhalb Wochen
hätte!
Doch ich glaube, der Streit hatte auch sein Gutes – hatte er doch die Luft zwischen uns gereinigt und uns gezeigt, dass wir im Herzen einander verbunden waren. Wir wussten nun, dass wir uns selbst in dieser absolut hoffnungslosen Situation wieder die Hände reichen und gemeinsam den neuen Tag beginnen können – ein sehr großes Geschenk in dieser dunklen Zeit.
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Viereinhalb Wochen
D er Schlaf stand uns noch in den Augen, als wir, keine drei Stunden später, um halb acht am gleichen Morgen auf unsere U-Bahn warteten. Wir fuhren zu unserem ersten Termin bei Frau Fricke, nachdem wir sie vor nur zwei Wochen bei der Pränataldiagnostik kennengelernt hatten. Zwei Wochen, die mir vorkamen wie eine halbe Ewigkeit, so viel hatte sich seitdem getan – zwar nicht unbedingt um mich herum, aber in mir. Zwei Wochen, in denen mein komplettes Weltbild, mein Glauben, meine Zuversicht, mein Optimismus und auch mein Selbstbewusstsein so radikal auf den Kopf gestellt wurden, wie ich mir das niemals hätte träumen lassen.
Früher hatten Tibor und ich einander immer wieder bestätigt, wie schnell die Zeit vergehe. Wir hatten darüber gescherzt, wo nur der eben erlebte Tag hingegangen sei, der vergangene Monat, das Jahr, doch seit der Diagnose waren uns diese Sätze nicht mehr über die Lippen gekommen. Seit der Diagnose lief unsere neue Zeitrechnung, die sich an nur zwei Fixpunkten orientierte: vor Julius und mit Julius, das war der erste Schnitt. Vor der Diagnose und nach der Diagnose, das war der zweite Schnitt, und er kam mir noch viel einschneidender vor als der erste. Seit der Diagnose lebten wir noch bewusster als zuvor, jeden Tag, jeden Moment, und das bis heute. Seit der Diagnose habe ich das Gefühl, alles viel intensiver zu erleben, im Guten wie im Schlechten. Ich genieße das Schöne stärker, und mir tritt die Trauer näher als je zuvor. Seitdem lebe ich mit Haut und Haar, weil meine Zeit mit Julius mir vom allerersten Tag meiner Schwangerschaft an so rar und daher so wertvoll war, dass ich mir keine Verschwendung mehr leisten wollte.
Die Zeit bei der Psychologin sollte ebenfalls alles andere als verschwendet sein: Jede Woche gingen wir von nun an zu ihr. Jeden Dienstag um acht Uhr morgens saßen Tibor und ich ihr an dem kleinen Couchtischchen gegenüber und erzählten von uns. Daraus bestand unser Treffen im Wesentlichen: Wir redeten uns unseren Kummer von der Seele, ohne Hemmungen und ohne Zensur, und sie hörte zu, kommentierte hier und da ein wenig und ordnete unsere wild um sich wirbelnden Gedanken, mehr nicht. Wir sagten ihr, dass wir nur im Bett liegen und heulen.
»Das ist in Ordnung so.«
Wir sagten ihr, dass wir nichts auf die Reihe bekommen momentan, dass wir verloren sind in unserem Schmerz.
»Sie beide haben eine Beziehung zu Ihrem Kind aufgebaut. Tagtäglich suchen Sie den Kontakt mit Julius, um seine Lebenszeit intensiv mit ihm zu erleben und zu genießen. Dabei wird Ihnen gleichzeitig bewusst, dass Sie ihn wieder hergeben müssen. Ist es verwunderlich, dass Sie Schmerz und Trauer empfinden?«
Wir berichteten von der Isolation, in die wir gegangen waren, von unserer Kontaktsperre sogar den engsten Familienmitgliedern gegenüber.
»Wenn Sie diesen Abstand benötigen, er sich für Sie richtig anfühlt, um sich möglicherweise auch zu schützen, dann ist das in Ordnung so.«
Das war überhaupt der wichtigste Satz, den wir von ihr hörten, immer wieder.
»Das ist in Ordnung«.
Wir erzählten ihr, dass wir uns wieder bei null angekommen fühlten, völlig am Boden.
»Das ist sicher frustrierend für Sie, aber es ist auch ein normaler Prozess. Die Verarbeitung der Trauer verläuft spiralförmig und nicht linear. Das bedeutet, dass man wieder in alte Gefühlszustände, die man schon längst überwunden glaubte, zurückfällt. Aber ich kann Sie beruhigen, die Rückfälle werden immer weniger werden.«
Seelenruhig saß sie da und fand, was immer wir ihr sagten, immer das Gute und das Richtige daran.
»Ich höre oft von Druck von außen, der wie Anfechtungen erlebt wird«, erzählte uns Frau Fricke dann, »denen die Paare in der Entscheidungsphase ausgesetzt sind. Dann sagen die Großeltern: ›Warum quält ihr euch so lange herum? Trefft doch endlich eine Entscheidung!‹ Doch es ist nicht sinnvoll, eine überstürzte Entscheidung zu treffen, nur weil man möglichst schnell aus dem unangenehmen Spannungszustand der Ambivalenz herauswill. Jedes Paar muss mit seiner Entscheidung leben.
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