Viereinhalb Wochen
einer Infektion kommen. Toll, oder?
Unser Leben ist irgendwie grad zu Ende. Wir wollen kein schwerstbehindertes Kind. Aber soll ich jetzt in die Klinik und die Geburt einleiten? Damit wir sicher sein können, dass er bei der Geburt stirbt? Es gibt keine Alternative, die machbar scheint. Wir sind am Ende. Aber diesmal richtig.
Und nun?
Weil die Antworten nicht sofort kamen, blieb uns nichts anderes übrig, als uns von unserer Bank loszureißen und den Tag weiter dahinzuexistieren, auch wenn wir nicht die geringste Lust darauf verspürten und auch keine Ahnung hatten, was wir anfangen sollten mit diesem strahlenden Frühling. So setzten wir uns einfach in die U-Bahn Richtung Prenzlauer Berg. Noch unterwegs erreichte uns eine zumindest tröstliche E-Mail der Psychologin – mit einem Termin für acht Uhr morgens, am folgenden Tag. Vor mir stand nun ein neues Problem: Wie sollte ich bloß die nächste Nacht überstehen?
Meine Nerven lagen genauso blank wie die von Tibor. Hinter uns lag ein schwarzer Tag, vor uns stand eine Wand, die wir nicht überwinden konnten. Der Tag kam näher, das wusste ich, an dem ich unseren Sohn auch körperlich spüren, an dem ich seine Bewegungen fühlen würde. Diesem Tag, auf den sich vermutlich jede andere Mutter freut wie auf keinen anderen, sah ich mit Angst und Schrecken entgegen – weil ich wusste, dass ich dann erst recht nicht mehr unbefangen entscheiden könnte. Ich wusste, dass meine Bindung zu Julius dann noch stärker würde, als sie es ohnehin schon war, und ich hatte Angst davor, ihm erst dann sozusagen gegenüberzutreten, um über sein Leben oder seinen Tod zu entscheiden. Hatte ich dieses Recht überhaupt?
Es war eine laue Mainacht, die Stadt dampfte die Hitze des Tages aus. Unsere Fenster standen offen, von der Straße war ein vielstimmiges Konzert aus Stimmen, Gelächter, Autoverkehr und Musik aus der Kneipe in unserem Haus zu hören. Wir lagen nebeneinander im Bett, doch an Schlaf war nicht zu denken. Beide waren wir traurig, aufgewühlt, rastlos. In dieser Nacht schlug unsere Unruhe nach und nach in Aggression um, und wir begannen zu streiten. Ich weiß gar nicht mehr, worum der Streit eigentlich ging, ich weiß nur noch, dass ich plötzlich aufsprang, mich wieder anzog und mich grußlos und mit Türenknallen aus der WG verabschiedete. Nur mit dem Schlüssel und dem Handy lief ich auf die Straße hinunter. Die lag nun – es war lange nach Mitternacht – ziemlich ruhig da. Ich weiß nicht mehr, wohin ich gehen wollte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was mir durch den Kopf schoss. Ich weiß nur, dass ich mechanisch und voller Wut die Straße entlanglief, nur um zu laufen. Ich wollte nur fort, als könnte ich so allen Problemen entfliehen.
Auch Tibor war auf die Straße hinuntergelaufen, auf der Suche nach mir, wie er mir später erzählte. Er fand mich aber nicht, weshalb er mir eine SMS schickte. Es dauerte eine Zeit, bis ich ihm antworten konnte, und dann schrieben wir ein paar Mal hin und her. Wir stritten auf diese Weise weiter wie pubertierende Teenager, bis ich ihn irgendwann doch anrief.
»Wo bist du?«, fragte ich resigniert ins Telefon.
Wir trafen uns schließlich ganz in der Nähe, auf dem Teutoburger Platz, und diskutierten dort auf einer Parkbank weiter. Wir stritten und heulten und schrien uns gegenseitig an, bis es Tibor zu viel wurde und er aufsprang und davonlief. Ich blieb noch kurz sitzen, ausgelaugt und verzweifelt, doch dann eilte ich ihm nach, so schnell ich konnte.
»So geht es nicht weiter«, rief ich ihm hinterher, »wir müssen zusammenhalten.«
Wir waren schon am Zionskirchplatz, als unsere aggressiven Energien langsam verebbten. Wir konnten wieder ruhig miteinander reden und einander um Entschuldigung bitten.
»Lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen«, murmelte ich, da mussten wir beide wieder lächeln, ging es doch vielmehr darum, dass die Sonne nicht über unserem Zorn aufgehen möge, denn überall regten sich schon die Vogelstimmen, und die Häuserfassaden traten aus dem stumpfen Licht der Straßenlaternen in das verheißungsvolle Zwielicht eines neuen Tages. Nun konnten wir nicht anders, als uns zu umarmen und loszuheulen und uns wieder versöhnt auf den Heimweg zu machen. Ein Blick auf die Uhr sagte uns, dass wir höchstens zwei Stunden Schlaf tanken konnten, bevor wir gegen halb acht Uhr morgens wieder rausmussten, zu unserem Termin mit Frau Fricke. Wenn sie doch nur tags zuvor Zeit für uns gehabt
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