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Viereinhalb Wochen

Viereinhalb Wochen

Titel: Viereinhalb Wochen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Bohg
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mache Ihnen wenig Hoffnung. Selbst mit Operationen, mit allem Menschenmöglichen sieht es nicht gut aus. Aber wirklich wissen könnten wir das erst, wenn das Kind geboren wäre …«
    Und so verabschiedeten wir uns auch nicht viel klüger, als wir einander begrüßt hatten. Unsere Besuche in der Friedrichstraße waren fast schon zur Routine geworden. Ich spürte immer noch jedes Mal Magengrummeln, Unruhe und eine große Traurigkeit, sobald ich am Bahnhof Friedrichstraße aus der Straßenbahn stieg. Diesmal war es schon abends, weshalb Tibor und ich unsere Schritte in eine Nebenstraße lenkten, um in einem italienischen Restaurant zu essen. Hier steckte alles voller junger Leute, die Stimmung war prächtig, und es roch wunderbar. Man orderte das Essen am Tresen direkt bei den Köchen, denen man in einer gläsernen Küche zusehen konnte, wie sie alles mit frischen Zutaten zubereiteten. Entsprechend lecker schmeckte unsere Pasta.
    Tibor und ich waren aber genervt von der guten Stimmung hier. Unser Gespräch drehte sich um den schrecklichen Befund unseres Sohnes, den wir gerade wieder schwarz auf weiß nach der Untersuchung erhalten hatten:
    Bei der heutigen Untersuchung findet man eine mikrocephale Entwicklung mit beginnendem lemon sign und relativ weiten Lateralventrikeln mit nach dorsal verzogenen Plexus choroidei bei bekannter occipitaler Encephalocele. Anteile des Myelencephalons und des Kleinhirns (?) scheinen in die Cele zu ziehen. Ein Kleinhirn ist intrakraniell nicht darstellbar. Über die Schwierigkeit genauer prognostischer Aussagen bei Hirnfehlbildung in der 16 . SSW wurde gesprochen …
    So ging es weiter im schwer verständlichen Medizinerjargon, den wir aber in Bezug auf die Krankheit unseres Sohnes gut deuten konnten. Das ist nicht der leichte Stoff für eine entspannte Dinner-Unterhaltung, aber wir hatten keinen anderen, wie immer seit Beginn der neuen Zeitrechnung. Unser Stoff hieß Julius, und wir waren lange nicht müde, über ihn zu sprechen. Wir wussten, dass wir so lange reden mussten, bis wir eine Entscheidung hatten. Wir wussten, dass wir diese Entscheidung aus dem Bauch fällen würden. Wir wussten aber auch, dass wir dazu erst alle Fakten sammeln mussten, die die harte Grundlage sein würden für unsere gefühlsmäßige Entscheidung. Plötzlich beschlossen wir, eine oder, genauer gesagt, zwei Listen zu machen: eine mit allen Punkten pro, eine mit allen kontra Abtreibung. Klingt das makaber? Nun, es war unsere Art, mit unserer wichtigsten Frage umzugehen. Wir wollten schwarz auf weiß vor uns sehen, was uns umtrieb. Wir hatten schon die Chipkarte, die man zum Bezahlen braucht, in der Hand, um schnellstmöglich aufzubrechen und zu Hause mit den Listen zu beginnen, als uns einfiel, dass wir doch auch gleich hier beginnen könnten. Warum nicht? Das war auch ein Zeichen einer kleinen Erholung – noch vor einer Woche wäre uns das nicht möglich gewesen, weil zwei heulende und schluchzende Menschen nicht in ein Lokal wie dieses passten. An diesem Abend aber waren wir dermaßen abgeklärt und rational, dass wir entschieden zu bleiben.
    So bestellte ich noch eine Panna cotta, Tibor holte sich einen Cappuccino, und für uns beide besorgte er am Tresen einen Stift. Wir setzten uns in den gemütlichen Lounge-Bereich des Restaurants, und es konnte losgehen. Als Schreibunterlage diente uns das große DIN -A 3 -Blatt, das auf jedem Tablett lag. Wir merkten bald, dass wir so voll waren mit Gründen für und wider eine Abtreibung, dass uns die Argumente beinahe überrannten. Wir schrieben und schrieben und schrieben.
    Wir hatten ein unglaubliches Gefühl, als wir fertig waren. Wir hatten zwar nicht gewagt,
Abtreibung
zu schreiben und stattdessen das beschönigende
Verabschieden
gewählt, aber in den einzelnen Punkten waren wir schonungslos offen geblieben. Wir lasen alles noch einmal durch und erschraken vor uns selbst darüber, was wir alles hervorgeholt hatten aus den Tiefen unserer Seelen. Wir fühlten uns aber auch erleichtert. Es ist etwas anderes, eine Sache nur zu erzählen und darüber zu reden – oder sie zu Papier zu bringen. Wir waren schonungslos dabei, alles aufzuschreiben, was wir dachten. Wir taten das ohne Selbstbeschränkung.
    Im Nachhinein kam es mir vor, als wären wir frei gewesen von allen gesellschaftlichen Ansprüchen und Vorgaben, frei von religiösen Bedenken, frei von familiären Bindungen. Alles war draußen vor der Tür in diesem Moment.
    Ein paar Mal hielt ich inne beim

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