Viereinhalb Wochen
er meine Reaktion empfunden hatte. Der musste lächeln.
»Du warst wie eine Löwin, die ihr Junges schützen wollte.«
Mir wurde auch durch diesen Vorfall immer klarer, wie stark meine Muttergefühle schon waren. In solchen Momenten dachte ich, dass ich mich emotional schon entschieden hätte, wenn nur nicht der Kopf ständig arbeiten würde. Wenn der nicht ständig neue Bedenken, Sorgen, Ängste und mögliche Katastrophen wälzen würde. Kurz dachte ich daran, Tibor zu fragen, ob er schon so weit war – doch ein Blick auf ihn reichte mir, um zu wissen, dass davon noch keine Rede sein konnte.
Ganz im Gegenteil: Wir hatten immer wieder lange Stunden, in denen wir die am schwersten erträglichen Dinge wälzten: Stell dir vor, das Kind überlebt. Es atmet, es macht die Augen auf, es hat einen Herzschlag … Was ist dann? Behandeln wir es wie ein gesundes Baby? Lassen wir dann alle medizinischen Apparate auffahren? Ich bin an und für sich ein ziemlich rationaler Mensch. Ich bin gewohnt, Entscheidungen aufgrund von Fakten zu treffen – aber offensichtlich galt das nur bis zum Ende der alten Zeitrechnung. Offensichtlich galt das nur für den Zeitraum »vor Julius«.
Jetzt, mit ihm, so viel war mir klar, würde das nicht so funktionieren mit der üblichen Entscheidung nach Faktenlage. Einerseits, weil die Fakten so unübersichtlich waren. Andererseits, weil Julius mehr war als ein Faktum.
Irgendwann merkten wir, dass wir uns im Kreis drehten mit unseren Gedanken. Da wir nun eine ganze Woche keine Arzttermine hatten, beschlossen wir, es zur Abwechslung mit Alltag zu versuchen, denn es war höchste Zeit, auch mal wieder Wäsche zu waschen, unsere Zimmer aufzuräumen und sich um ein paar Dinge wie Umzugsorganisation und eine neue Wohnung zu kümmern – beinahe hatten wir vergessen, dass das Leben während der letzten Wochen auch außerhalb unserer Tränenhöhle weitergegangen war, und schließlich wollten wir längst nicht mehr in der WG sein, sondern in unseren eigenen vier Wänden. Wir hatten geplant, spätestens sechs Monate nach Ankunft in Deutschland unser neues Nest bezogen zu haben.
Am Montagmorgen – drei Wochen nach der Diagnose – überkam mich eine unendlich große Sehnsucht danach, meinen Sohn wieder sehen zu wollen.
Ich sagte Tibor, dass es nun, in der siebzehnten Schwangerschaftswoche, auf dem Ultraschall schon um einiges mehr zu erkennen gebe – und dass meine Hoffnung, alles könnte sich irgendwie aufgelöst haben, noch nicht verloschen sei.
Ich rief in der Pränataldiagnostik-Praxis an, wissend, dass Termine spontan sehr schwer zu bekommen waren. Die freundliche Dame am Telefon sah sofort nach, ob wir noch einmal zum Ultraschall kommen könnten, und sagte fast freudig: »Haben Sie ein Glück, Frau Bohg! Gerade eben ist ein Termin abgesagt worden, da schiebe ich Sie hinein. Kommen Sie um fünfzehn Uhr heute Nachmittag.«
Wir waren baff! Ich glaube nicht an Zufall, ich dankte Gott für dieses Wunder.
Diesmal saß wieder Frau Dr. Sarut López am Ultraschallgerät. Alles war wie gehabt, allerdings wesentlich deutlicher: Julius hatte alles in allem normale Werte, doch sobald es um seinen Kopf ging, lagen alle Parameter außerhalb jeglicher Norm – er war viel zu klein, und aus dem Hinterkopf wuchs eine Ausbuchtung heraus, die da nicht hätte sein dürfen. Darüber hinaus konnten wir alles genau sehen bei unserem kleinen Jungen – die Ärmchen, die Beinchen. Die kleinen Finger, die Ohren, die Füßchen. Ich empfand Ehrfurcht beim Anblick des ungeborenen Lebens. Ich fand es nicht nur unglaublich, wie perfekt wir unser Baby sehen konnten, sondern auch, wie perfekt es aussah. Ich empfand Ehrfurcht vor diesem Menschlein, und ich fragte mich sorgenvoll, ob das auch allen anderen so gehen würde, die auf die eine oder andere Art mit Julius in Kontakt kämen.
Wir hatten uns seit unserem letzten Termin so weit in die Materie eingelesen, dass wir schon ein wenig mitreden konnten, als uns Frau Dr. Sarut López die Bilder erklärte. So war es auch keine Neuigkeit für uns, als sie uns mitteilte, dass sich die Lage von Teilen des Gehirns im Fruchtwasser ungünstig auf unseren Kleinen auswirken würde, weil diese Flüssigkeit toxisch auf alles wirke, was da nicht hingehört.
Wir lernten wieder ein paar medizinische Fachbegriffe dazu, bekamen aber keine hundertprozentige, sondern nur eine annähernde Antwort auf unsere wichtigste Frage: »Hat Julius Chancen zu überleben?«
»Nein, Frau Bohg, ich
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