Viereinhalb Wochen
würden, wie wir auf sie zurückblicken würden? Depressiv? Traurig? Beschämt? Froh? Verbittert? Unser beider Traum ist es, gelassen zurückblicken zu können. Sagen zu können, dass wir zu einer gereiften Entscheidung gekommen sind. Dann wäre ich zufrieden damit, bis ans Ende meiner Tage.
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Endlich Frieden
W ir waren an einem Punkt angekommen, an dem wir wussten, wir könnten nicht noch mehr Fakten sammeln. Wir wussten, es hätte keinen Sinn mehr, noch ein paar Tage vor dem Computer zu sitzen, noch ein paar hundert Blog-Einträge zum Thema Eltern von behinderten Kindern zu lesen, noch einen Haufen einschlägiger Verbände und Selbsthilfegruppen anzuschreiben. Wir wussten, dass es keinen Sinn hätte, noch mehr Fachärzte zu befragen, denn die Situation war klar: Julius war nicht überlebensfähig, aber niemand konnte uns sagen, wie lange es dauern würde bis zu seinem Abschied, und wie genau er diese Zeit verbringen würde – alles andere waren Spekulationen, Meinungen, weltanschauliche Einstellungen, die nichts am Leben und am Sterben von Julius ändern konnten. Wir wussten alles, was wir wissen mussten, und wir wussten, dass die Reihe nun an uns war. Wir wussten, dass wir uns jetzt entscheiden mussten.
Der Druck dieser Entscheidung lastete nun immer stärker auf uns, zusammen mit noch ein paar anderen Lasten – konnte es denn sein, dass alles auf einmal kam? So mussten wir unsere Wohnungssuche plötzlich intensivieren, weil Tibors Vater uns kontaktierte: Im Keller seines Hauses lagerte immer noch der Inhalt des Umzugscontainers, den wir aus den USA mitgebracht hatten – und er wollte den Raum bis Ende Juni freigeräumt haben. Außerdem endete der Mietvertrag für unsere Zimmer in der WG Ende Juli, und Tibor hatte schon erste Termine bei seiner neuen Chefin, um sich für den Arbeitsantritt am 1 . Juli vorzubereiten. So kam eines zum anderen, wir hatten atemlose Tage zwischen Arztbesuchen, Wohnungsbesichtigungen, Büroterminen und Internetsurfen auf der Suche nach neuen Wohnungsangeboten. Vor uns aber lag immer und überall die Mauer der Entscheidung.
Wir kommen hier nur gemeinsam durch diese schlimme Zeit
Das schrieb ich Tibor als SMS , als er schon mal einen Nachmittag lang ein paar Stunden bei seinem zukünftigen Arbeitgeber verbrachte. Es war sehr ungewohnt für mich, allein zu Hause zu sein. So eng wurde es mir da manchmal, dass ich mich zwischendurch melden musste bei meinem Mann, auch wenn er nur ein paar Stunden weg war.
Ich sehe aber die Sonne immer mehr
So froh war ich über diesen Satz Tibors. Ich brauchte diese kleinen Zeichen zwischendurch, diese Erinnerungen, dass er noch da war und ich auch noch.
Mama lacht grad ganz dolle. Der Kleine ist bestimmt grad ganz dolle hochgehüpft.
Ich musste ihm das schreiben, wenn ich zwischendurch mal ein Gefühl hatte, dass alles gut werden könnte. Dass ich ein Kind im Bauch trage. Unser Kind!
Ja, er hüpft bestimmt und er weiß ja, dass wir ihn lieben.
Ich wusste, dass Tibor bei uns war, auch wenn er in seinem zukünftigen Büro saß. Dass er in Gedanken nah war, nicht nur bei mir, sondern auch bei unserem gemeinsamen Kind. Ich spürte das, und es machte mich glücklich.
Du und Julius seid meine Familie, und ich stehe dazu, komme, was wolle
Als ich diesen Satz Tibors las, kamen mir die Tränen. An solchen Texten merkte ich, dass die Entscheidung bei ihm nicht nur bevorstand, sondern schon in ihm arbeitete, so dass er kaum hinter dem Berg halten konnte mit ihr, wie wir es aber abgemacht hatten: Keiner von uns beiden, so war es verabredet, verkündet dem anderen seine Entscheidung, bis nicht beide ihren Entschluss fest und unverrückbar gemacht hätten.
Wenn ich diese SMS -Konversationen im Nachhinein noch einmal lese, kommt es mir vor, als wäre damals schon alles völlig klar gewesen, als hätten wir unsere Entscheidung längst getroffen gehabt. Aber ich weiß, dass dieser Eindruck täuscht, denn es war nicht so. Ich weiß, dass wir damals zwar schon solch helle Momente hatten, aber dass zwischen diesen lichten Höhen noch viele tiefe, dunkle Täler lagen, in denen uns nichts klar war. Wir waren, alles in allem, wie Wanderer, die manchmal zwar schon den Gipfel sehen konnten, die aber feststellen mussten, dass überraschenderweise doch noch immer wieder die eine oder andere Schlucht vor ihnen lag, die sie zu durchqueren hatten. Oft wussten wir am Morgen nicht, wie wir den Vormittag rumkriegen sollten. Wir hatten noch nach dem Frühstück
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