Viereinhalb Wochen
keine Ahnung, wie wir bis zum Nachmittag kommen sollten. Wir konnten eben nicht in die Zukunft sehen, nicht einmal in die unmittelbarste. Manchmal fühlten wir uns wie in einem dunklen Zimmer, in dem man herumtapsen muss auf der Suche nach dem Lichtschalter und dabei überall anstößt, weil man ihn nicht finden kann.
Umso mehr Licht kam in dieses imaginäre Zimmer, als wir den Termin im St. Joseph Krankenhaus hatten, wohin uns Frau Fricke empfohlen hatte. Wir wussten, dass es ein katholisches Krankenhaus war. Es liegt mitten in Tempelhof, in der Nähe des ehemaligen Flughafens. An der Rezeption wurden wir von einer katholischen Ordensschwester empfangen, mit Klostertracht und Haube. Ungefähr so hatten wir uns die Psychologin vor unserem ersten Treffen vorgestellt, doch so hatte sie ja nicht ausgesehen. Die Nonne begrüßte uns auf das freundlichste und erkundigte sich nach unseren Wünschen. Ich wusste merkwürdigerweise schon in diesem Moment instinktiv, dass wir in diesem Haus keine schlechten Erfahrungen machen würden. Ich war ruhig, Tibor war ruhig, und selbst Julius war ruhig, ich fühlte das. Ich spürte, dass ich Julius hier nicht schützen musste, dass hier menschliche Wärme herrschte, wie sie nicht in allen Krankenhäusern selbstverständlich ist.
Die Nonne verwies uns an die Sekretärin des Chefarztes. Als wir kurze Zeit später im Behandlungszimmer von Dr. Michael Abou-Dakn saßen, spürten wir sofort die Ruhe, die hier herrschte. Die Zeit, die man sich für den Patienten nahm. Der Arzt studierte erst einmal gründlich die von uns mitgebrachten Befunde.
»Wir stehen kurz vor unserer Entscheidung, wie es weitergehen soll«, sagte ich ihm gleich zu Beginn unserer Unterhaltung. »Wir sind nur mit einer einzigen Frage bei Ihnen: Ob Sie gewillt sind, uns palliativ zu betreuen, wenn wir das Kind austragen?«
Ich fügte noch hinzu: »Es ist ein Junge. Er heißt Julius.«
Dr. Abou-Dakn sah mich an, er sah auf Tibor, als könnte er etwas lesen in unseren Gesichtern. Er nickte nur zum Zeichen, dass ihm die Situation klar war, und vertiefte sich noch einmal in das Studium der Befunde. So viel Ruhe hatten wir noch nie erlebt bei einem Arzt. Wir genossen das, bis mir die Ruhe fast schon unheimlich war – und bis er aufsah und das lange Schweigen unterbrach:
»Liebe Familie Bohg, ich möchte Ihnen etwas sagen. Ihr Sohn, der Julius, der hat einen Sinn für Sie. Er hat eine Funktion für Ihre Beziehung, Ihre Ehe.«
Ich war sprachlos. So etwas hatte ich noch nie gehört von einem Arzt. Dr. Abou-Dakn hatte nicht mit Diagnosen angefangen, nicht mit medizinischen Fachausdrücken um sich geworfen, keine neuen Untersuchungen gefordert, sondern er hatte zuerst einmal eine rein menschliche Feststellung gemacht. Eigentlich die zentrale Feststellung, wie ich fand. Nur mit Mühe konnte ich verhindern, dass mir sofort die Tränen in die Augen schossen. Ich wusste in diesem Moment schon, dass wir uns diesem Arzt voll und ganz anvertrauen könnten. Es war das erste Mal seit der Diagnose, dass ein Arzt Julius als eigenständige Person sah und ihn auch so ansprach. Ich weinte. Tibor weinte. Dr. Abou-Dakn gab uns Zeit, uns wieder zu sammeln.
Dann erzählte er von seiner Klinik, von Julius’ Krankheit, von seiner Sicht auf die Diagnose. Dass die hoffnungslos sei, dass es keine Chancen auf Heilung oder Besserung gebe. Er wusste um unsere Niedergeschlagenheit angesichts dieser Diagnose, wusste um unsere Verzweiflung.
»Bitte hören Sie mir zu: Sie haben keine Schuld! Sie können nichts dafür! Sie haben alles richtig gemacht!«
Das waren Worte, die selbstverständlich waren – nach dem Wissen, das wir über die Krankheit unseres Sohnes zusammengetragen hatten. Es waren aber auch Worte, die uns noch kein Arzt gesagt hatte. Es waren Worte, die uns guttaten wie nichts anderes sonst. Es waren erlösende Worte.
Wir waren so überwältigt, dass uns die eigentliche Botschaft des Arztes nicht mehr überraschte: »Für mich ist das okay, ihren Sohn palliativ zu behandeln. Mein Team und ich, wir machen das. Ganz egal, wer Dienst hat, ob ich da bin oder nicht, das ist für Sie gewährleistet.«
Das war mehr als eine Erleichterung für uns, es war die Rettung. Der Nachsatz Dr. Abou-Dakns konnte uns kaum mehr beunruhigen: »Aber das ist die eine Seite der Medaille, denn ich bin nur Chefarzt der Gynäkologie. Meine Kollegin Frau Dr. Schmidt, die Chefärztin der Kinderklinik, muss dem auch zustimmen, sonst funktioniert das nicht.
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