Viereinhalb Wochen
Aufzählen, was Tibor stutzig machte.
»Was war das? Was wolltest du sagen?«
Mir ging es nicht anders, wenn Tibor zögerte: »Sag es doch! Alles muss jetzt auf den Tisch!«
Als wir fertig waren, falteten wir unsere Liste sorgfältig zusammen und packten sie ein und hatten das Gefühl, einen großen Schritt weitergekommen zu sein. Nicht mit einer Antwort in der Hinterhand, aber auf dem Weg zu dieser Antwort vor uns. Gleichzeitig fühlten wir uns erschöpft, ausgelaugt wie nach einem Dauerlauf und ernüchtert, weil alles Schreckliche schwarz auf weiß vor uns stand.
»Ich würde am liebsten in die Klinik gehen und einen Termin machen, zur Abtreibung«, sagte ich leise zu Tibor. Es fühlte sich schlecht an, das zu sagen, es klang trotzig, aber ich fand keine anderen Worte. »Ich will das alles nicht mehr, ich halte das nicht mehr aus, ich habe das alles so satt.«
Tibor erzählte später einmal, dass es ihm an diesem Abend nicht anders ging. »Die Faktenlage war einfach erdrückend«, erinnerte er sich, »die psychische Belastung, den todgeweihten Sohn im Bauch meiner Frau zu wissen, all die negativen Begleiterscheinungen, auf die wir gestoßen waren. An diesem Tag dachte auch ich nur mehr an Abtreibung.« Erschöpft wankten wir hinaus, zurück auf die Friedrichstraße. Ich dachte, ob die Leute uns unsere Ohnmacht ansehen? Unsere Verzweiflung? Die Abgründe meiner Seele? Ob sie sich vorstellen konnten, dass ich mir eben Fragen gestellt hatte, vor denen ich mich selbst schämte? Wie lästige Quälgeister kamen mir diese Gedanken vor, und ich versuchte sie zu verscheuchen. Quatsch, dachte ich, natürlich sehen sie nichts, nur Tibor sieht es. Wir beide hatten nichts voreinander zu verbergen.
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Susie
A ls ich am nächsten Morgen aufwachte, schrak ich sofort hoch. Mein erster Griff galt meinem Bauch. Hektisch fuhr ich mir über die nun schon gut fühlbare Wölbung und ließ mich mit einem Seufzer noch einmal auf mein Kissen sinken.
Gott sei Dank, alles noch da!
Sofort musste ich an den vorigen Abend denken, an das Listenschreiben beim Italiener, an die trüben Gedanken, an meinen Abtreibungswunsch. Ich schämte mich dafür, ich weiß nicht, warum, aber es war so. Ich schämte mich und musste wieder weinen, wenn ich daran dachte und an die Ausweglosigkeit, die mich umgab. Ständig hast du mit dem Tod zu tun, dachte ich, mit der Frage, wie dein Kind sterben soll. Dabei solltest du jetzt ein Nest bauen. Du solltest einen Kinderwagen kaufen, mit dem du joggen gehen kannst. Du solltest Babysachen aussuchen!
Betrübt klappte ich meinen Laptop auf: Meine E-Mails checken, Beiträge in den Foren lesen, in denen ich selbst schrieb, Internetseiten rund um die Themen infauste Diagnose, pränatale Diagnostik und »Sternenkinder«, wie man früh verstorbene Kinder nennt, zu recherchieren.
Diesmal blieb ich bei meinen E-Mails hängen, weil ich eine Nachricht von Susie aus Neuseeland erhalten hatte:
Ich bin so froh, dass du unseren Blog finden konntest. Mein Anliegen beim Schreiben dieses Blogs bestand darin, dass Familien, die das Internet nach »Encephalocele« durchkämmen, die Geschichte einer realen Familie finden sollten, die das erlebt hat. Als wir Joshuas Diagnose in der zwanzigsten Schwangerschaftswoche bekamen, hatte ich das Wort »Encephalocele« noch nie gehört. Damals durchsuchte ich selbst wochenlang das Internet und konnte nichts finden außer verstörenden Bildern von missgebildeten Föten.
Ich atmete auf, als ich das las. Immerhin war es mir genauso gegangen – bis ich auf Susies Blog gestoßen war. Sie sprach mir aus der Seele. Gierig sog ich ihren Text auf, der für mich umso interessanter war, als Susie und ihr Mann damals bereits eine gesunde Tochter hatten und daher über gute Vergleiche verfügten:
Joshua voll auszutragen war genauso wie meine erste Schwangerschaft. Diese Schwangerschaft fühlte sich nicht anders an, tatsächlich war sie sogar ziemlich leicht im Vergleich zu meiner ersten. Wir waren gewarnt, dass er vielleicht tot auf die Welt kommen könnte. Er wurde dann auf natürlichem Weg geboren, lebendig – was definitiv überraschend war. Der Arzt, der uns betreute, war ein Deutscher, der in Neuseeland arbeitete. Er war der Erste überhaupt, der uns sagte, dass wir vielleicht »Monate« mit Joshua hätten – alle anderen sagten uns immer nur, dass das bloß Stunden sein könnten, höchstens Tage …
Unsere Gründe für das Austragen Joshuas bis zum Schluss lagen vor allem in
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