Viereinhalb Wochen
der Entscheidung, Julius palliativ zu behandeln?«
Die Ärztin musste nicht lange nachdenken, um zu antworten: »Ja – unter der Voraussetzung, unsere Annahmen bestätigen sich nach der Geburt. Wir hatten immerhin auch schon Kinder mit einer infausten Diagnose, die letztlich gute Überlebenschancen hatten. Das glaube ich zwar in Ihrem Fall nicht, aber abwarten und sehen, was los ist, müssen wir natürlich …«
Noch vor ein paar Wochen wäre mir nach dieser Bemerkung das Herz in die Höhe gehüpft – als ob es doch noch Hoffnung gäbe für Julius. Nun wusste ich, dass dies nur eine Vorsichtsmaßnahme der Ärztin war, zu ihrer eigenen Sicherheit. Ich wusste, dass die tödliche Diagnose für Julius so unverrückbar war, wie nur etwas unverrückbar sein konnte – auch wenn ich nicht wusste, ob und wie lange er die Geburt überleben würde. Und natürlich antwortete ich genau so, wie es von mir erwartet wurde: »Natürlich – wenn wirklich noch etwas zu machen wäre bei Julius, dann müssen Sie alles Menschenmögliche tun, um ihm zu helfen. Wir möchten nur nicht, dass er die wenige Zeit seines Erdenlebens voller Nadelstiche und mit lauter Schläuchen im Leib verbringen muss …«
Darin pflichtete mir Frau Dr. Schmidt sofort bei, und ich war so froh, dass ich nun das Gefühl hatte, zu wissen, wo Julius zur Welt kommen würde. Wir saßen auf den roten Sesseln in ihrem Arbeitszimmer, vor Entspannung in uns zusammengesunken. Jetzt, das fühlte ich, war die Reise beendet, oder zumindest dieser Teil unserer Reise, die uns bis zur Geburt unseres Sohnes führen sollte und hoffentlich auch noch ein gutes Stück darüber hinaus.
Ich erzählte ihr, dass wir nun unsere Familien und unsere Freunde über unsere Entscheidung informieren würden, wobei uns die Ärztin einen guten Tipp gab.
»Sagen Sie denen die genaue Diagnose, sonst erleben Sie immer das Getuschel, es könnte ja dies oder das sein. So haben Ihre Verwandten die genaue Beschreibung. Die googeln dann ein oder zwei Wochen, bis sie der Sache überdrüssig werden, und Sie haben dann wahrscheinlich mehr Ruhe.«
Mir gefiel die Art dieser Ärztin: Sie sprach so kerzengerade, wie ihre Haltung war. Sie argumentierte so korrekt, wie es ihrem schmalen, akkuraten Aussehen entsprach, und sie ging so herzlich mit uns um, wie das einer uns fremden Person in so einer Situation möglich war.
»Ich erlebte Sie vom ersten Tag an als sehr tapfer, aber auch als sehr traurig und als sehr in Ihr Baby hineinfühlend«, erzählte sie mir später, »und Sie wollten genau das tun, was für Ihr Baby das Beste war. Das hat mich beeindruckt.« Die Ärztin erzählte mir auch, dass sie diesen langsamen, scheinbar schwierigeren Weg, den wir nun gewählt hatten, langfristig für den besseren hielt als den kurzen, scheinbar einfachen Weg hin zu einer Abtreibung – zumindest in unserem Fall. »Bei Ihnen wusste ich sofort, dass Sie das Baby behalten«, sagte sie. »Ich denke, eine solche Entscheidung ist sehr sehr schwer und hängt immer vom Einzelfall ab – für manche Paare oder Mütter ist es besser, sie tragen ihr Kind aus, für andere ist eine andere Entscheidung richtig.«
Ich wusste nun sicher, dass ich nicht abtreiben würde, weil es für uns als kleine Familie besser sein würde, Julius auf der Welt zu begrüßen. Andere mögen zu einer anderen Entscheidung kommen, die genauso zu respektieren ist. Hauptsache, es bleibt am Ende eines solchen Prozesses nicht irgendeine in Panik oder unter Druck von außen getroffene, sondern eine eigene, gereifte Entscheidung für die jeweilige Frau, den Mann, das Kind. Alles andere wird sich fügen.
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Der Brief
A n diesem Tag gingen wir endlich mit der hundertprozentigen Gewissheit, uns entschieden zu haben, zu Bett. Auf dem Weg zu der Entscheidung hatten wir uns viereinhalb Wochen zermürbt. Wir hatten einen Monat mit uns gerungen, alle Möglichkeiten rauf und runter diskutiert, uns die Finger wund gegoogelt und die Augen rot geweint. Wir hatten alle Register gezogen, um zu einer Entscheidung zu kommen. Und nun lagen wir einfach da und wussten, dass wir so weit sind. Wir mussten kaum mehr darüber sprechen, es gab nichts mehr zu diskutieren, nichts zu analysieren, nichts zu recherchieren. Wir wollten nur noch eine Nacht über unserer Entscheidung schlafen – eine Floskel, die wir wörtlich nahmen: Wir schliefen friedlich ein und wussten am nächsten Morgen immer noch hundertprozentig sicher, dass ich Julius zur Welt bringen
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