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Viereinhalb Wochen

Viereinhalb Wochen

Titel: Viereinhalb Wochen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Bohg
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Sobald das Kind auf der Welt ist, ist schließlich ihre Station zuständig …«
    Der Arzt machte keine weiteren großen Worte, sondern griff nach dem Telefonhörer, um für uns einen Termin bei seiner Kollegin zu vereinbaren. Wir verabschiedeten uns mit Frieden im Bauch. Wir lächelten beim Abschied noch einmal der Nonne beim Eingang zu und liefen in Richtung S-Bahn. Gedankenverloren, wobei unsere Gedanken erstmals seit der Diagnose anfingen zur Ruhe zu kommen. Das war das erste Mal seit damals, dass wir einen Anflug von Hoffnung hatten. Mitten auf der Straße mussten wir stehen bleiben, und ich fiel Tibor schluchzend in die Arme. Auch er musste anfangen zu weinen. Diesmal war es jedoch nicht das Resultat der Verzweiflung, sondern der Erleichterung.
    Zurück in der WG, konnten wir erstmals einen möglichen Weg für Julius vor uns sehen, obwohl wir einander unsere Entscheidungen noch nicht mitgeteilt hatten – nicht zuletzt, weil die noch nicht offiziell feststanden. Wir waren jedoch so nah beieinander, wir waren so innig, dass wir insgeheim jeweils schon vom anderen wussten, wie der sich entschieden hatte.
    Ich hielt es nicht mehr aus und wagte die Frage vorsichtig: »Schatz, bist du schon so weit? Was spürst du im Herzen?«
    »Ich habe Frieden darüber, unseren Sohn auszutragen, wenn Frau Dr. Schmidt auch ihre Zustimmung zur palliativen Betreuung gibt.«
    Ich begann zu weinen, nickte und brachte gerade noch ein »Ich auch« hervor.
    Wir weinten nun beide, perplex darüber, wie unspektakulär plötzlich alles war. Wie kurz dieses Gespräch ausfiel, und welche Erleichterung wir verspürten. Wir hielten einander schluchzend in den Armen, es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Ein unsagbar schweres Gewicht hob sich von meinen Schultern.
    Einige Tage später schrieb mir Tibor eine SMS während der Heimfahrt vom Büro, wo er eben einen weiteren Einarbeitungstag verbracht hatte.
    Ich habe wirklich eigenen Frieden bei dieser Entscheidung. Wir schaffen das zusammen. Ich liebe Dich
    Ich antwortete:
    Ich liebe Dich auch. Ich bin so dankbar, dass wir so offen und ehrlich miteinander sind. Und wenn Du auch zu 100 % den Tief-im-Bauch-Frieden hast, dann schaffen wir das auch gemeinsam
    Ja, schrieb Tibor zurück
, ich habe zu
100
% das richtige Gefühl. Ich fühle mich mit Dir/Euch mehr verbunden als je zuvor. Und das ist so wunderbar
     
    Später hat er mir erzählt, er habe sich in diesen Momenten in der S-Bahn gefühlt, als hätte jemand eine schützende, wärmende Riesenseifenblase über ihn gestülpt. Er hatte die Sonne wunderschön im Abendrot gesehen und sich gefühlt, als sei er nun bei Julius. Einfach so sei das gekommen, hat er mir erzählt, ohne, dass er darüber nachgedacht hatte.
    Doch nicht nur Tibor fühlte in diesen Tagen Frieden in sich aufsteigen, auch mir ging es so. Nun wussten wir beide endlich, dass wir uns für Julius entschieden hatten. Es war aber noch immer eine Woche zu meistern, bis wir endgültig die offizielle Entscheidung haben würden. Die Worte der Chefärztin der Kinderstation würden das Zünglein an der Waage sein. Würden wir ihre Zustimmung nicht erhalten, stünden wir wieder bei null.
    Eine Woche also noch – eine Woche, in der uns mein Bruder Sebastian sehr zur Seite stand, wie auch schon in all den Wochen davor. Er machte uns damals immer wieder ein großes Geschenk – er verhalf uns zu so etwas wie Alltag. Er war einfach da, abends, aß mit uns, spielte mit uns Kniffel und redete mit uns über irgendetwas, nur nicht über tote oder todgeweihte Babys. Sebastian tat sich ohnehin schwer, mit unserer Katastrophe verbal umzugehen – er tat sich leichter damit, einfach mit uns Zeit zu verbringen. Für ihn war all das sehr belastend, denn er wurde mehrfach von meiner Mutter angefleht, ihr doch bitte zu erzählen, was nun los sei mit mir und mit unserem Baby. Doch Sebastian hielt dicht, was ich ihm bis heute hoch anrechne. Sebastian lachte mit uns, er weinte mit uns, er wusste alles, sah jeden Tag in unsere verheulten Gesichter, schrieb an seiner Diplomarbeit und spielte regelmäßig mit uns Kniffel – ich glaube, es gibt nicht viele Brüder, die all das in einer ähnlichen Situation so souverän und auch noch mit guter Laune geschafft hätten.
    Unsere letzte Besinnungswoche ging zu Ende, als wir unseren Termin mit Frau Dr. Schmidt hatten, der pädiatrischen Chefärztin im St. Joseph Krankenhaus.
    Wir schilderten ihr unseren Fall, bis wir zu unserer Frage kamen: »Steht Ihr Team hinter

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