Viereinhalb Wochen
unserem Glauben an Gott. Wir glauben, dass Gott alles Leben bestimmt und dass es nicht unser Recht ist, zu wählen, wann dieses Leben endet. Ich fühlte, wie der Herr zu mir sprach: »Ich gab dir deine Tochter, damit du sie schützt, und du musst das für Joshua genauso tun, wie du das für deine Tochter auch tun würdest.« Und das taten wir …
In den Momenten, in denen ich diese E-Mail las, fühlte ich bereits, wie mir die Seele aufging. Ich fühlte die aufrichtige Motivation dahinter, und ich fühlte, dass ich mir gut vorstellen könnte, mit Julius genauso umzugehen, wie Susie das mit Joshua getan hatte – oder zumindest konnte ich deren Ausgangslage genau nachempfinden, weil ich ähnlich dachte. Sehr gut gefiel mir, dass Susie nicht im Geringsten versuchte, mir ihre Ansichten aufs Auge zu drücken, sondern offen blieb in ihrer Darstellung:
Constanze – es ist nicht einfach. Es wäre nicht einfach für dich, wenn du eine Verabschiedung zum jetzigen Moment wählst, und es wäre nicht einfach, wenn du dich später verabschieden wolltest. Aber je länger du ihm Zeit gibst in deiner Gebärmutter, eine umso größere Chance hat er, etwas länger zu überleben, um dann mehr Zeit mit dir zu verbringen. Lass die Ärzte dir nicht sagen, dass sein Leben nur ein Dahinvegetieren ist oder dass das alles »keine Rolle spielt« – du weißt, dass die beste Wahl für dich und für deine Familie das ist, was du und dein Mann beschließen. Kein Arzt kennt dich wirklich, und kein Arzt weiß, wie deine Gefühle über all das später sein werden.
Ich kann dir nur eines sagen – ohne jeden Zweifel: Die Zeit, die ich von dem Moment an, als ich feststellte, dass ich schwanger war, mit Joshua verbrachte bis zu dem Morgen, an dem ich ihn in den Armen hielt, als er starb – diese Zeit war immer kostbar. Sie war ein absolutes Geschenk. Nein, ich konnte ihn nicht aufwachsen sehen, nicht zum ersten Mal beim Radfahren beobachten, ihn nicht das College beenden lassen. Aber ich sah, wie er um sein Leben kämpfte. Und ich weiß, dass er trotz seiner körperlichen und geistigen Behinderung wusste, wer wir waren und dass wir ihn liebten. Ich wollte, dass Joshua wusste, dass wir ihn liebten, die ganze Zeit, in der er da war. Diese Momente, in denen ich ihn hielt, in denen ich ihm die Stirn küsste, in denen ich mit ihm sprach – das waren einige der wertvollsten Erinnerungen, die ich habe.
Ich bete für dich, für deinen Mann und für das Baby Julius. Bitte halte mich auf dem Laufenden, wie es euch allen geht.
Mit Liebe und Verständnis
Susie
Meine Tränen flossen in Strömen – nicht erst, als ich mit der E-Mail fertig war, sondern schon während des Lesens. Es war das erste Mal, dass ich direkt in Kontakt war mit jemandem, dessen Kind von exakt derselben Krankheit betroffen war. Es war das erste Mal, dass sich eine Sternenmama mir gegenüber so offen und gleichzeitig so gefühlvoll geäußert hatte. Das war eine Art des persönlichen Miteinanders, die ich bis dahin nur in den USA kennengelernt hatte – doch Susie ist schließlich auch Amerikanerin, die damals zwar in Neuseeland lebte, heute aber wieder in den USA wohnt. Sofort begann ich, eine Antwort zu formulieren.
Schon während ich schrieb, war mir klar, dass sich ein Rat von ihr schon lange bestätigt hatte – dass die beste Wahl für meine Familie die Entscheidung wäre, die mein Mann und ich für uns fällen würden. Unsere eigene, kleine Familie. Diese Familie, die aus genau drei Personen bestand: Aus Tibor, Julius und mir. Für mich bedeutete das, ein Stück neuer Identität zu finden – dass wir nun selbst eine Familie waren. Das musste ich erst begreifen: Nicht meine Eltern, nicht Tibors Eltern, nicht Tanten, Onkel und Nichten und Neffen waren meine Familie, sondern Tibor, Julius und ich. Klar war meine Herkunftsfamilie mir wichtig, aber hier und nur hier – im Kreise meiner eigenen Familie – musste die Entscheidung fallen, das wusste ich genau, denn hier und nur hier mussten dann auch die Folgen der Entscheidung getragen werden. Schon stand mir das Bild von Tibor und mir in fünfzig Jahren vor Augen, unter einem großen alten Baum, einer Linde, verliebt und erfüllt Händchen haltend auf einer Bank. Naiv? Das war mir egal, denn das ist seit Jahren unsere Vision von unserer Ehe: Noch als alte Menschen zusammen zu sein und miteinander unser Leben Revue passieren lassen, auch das Jahr 2011 , auch Julius. Wie wir diese Zeit wohl in Erinnerung haben
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