Viereinhalb Wochen
würde. Dann, wenn er das wollte. Auf die Art, die die Natur vorgeben würde. Wir wollten alles wieder in Gottes Hand legen.
Es war wie ein Traum: All unsere Verzweiflung, unser Ringen, unsere Ratlosigkeit waren wie weggeblasen. Natürlich waren wir nach wie vor traurig. Wir waren niedergeschlagen über das Schicksal unseres Sohnes, hilflos angesichts seiner Krankheit. Wir waren aber auch überzeugt davon, dass wir einen Weg gefunden hatten, damit umzugehen. Uns war klar, dass wir nichts tun konnten, außer bedingungslos zu lieben. Das ist eine harte Erkenntnis angesichts eines so großen Leides, sind wir es doch gewohnt, zu handeln, zu bestimmen, selbst zu gestalten. Bei Julius gab es aber nichts zu gestalten, das war die Essenz der bitteren Wahrheit. Hier gab es nichts zu beeinflussen, nichts umzukrempeln. Das war eine Erkenntnis, für die wir viereinhalb Wochen gebraucht hatten, aber nun war sie da. Nun lag alles wieder in Gottes Hand, genauso wie es das vor diesem Monat getan hatte. Das klingt einfach, ist aber ein schwieriger Satz für die, die ihn leben müssen. Für Tibor und mich war es der schwerste Satz, den wir je gesagt hatten in unserem Leben.
Dafür kam uns von nun an alles andere neben diesem Satz einfach vor, waren die Hürden des Alltags zu vernachlässigen: Wir hatten einen Termin, um eine wunderschöne Drei-Zimmer-Wohnung in Pankow zu mieten, doch an der Wohnungstür erfuhren wir, dass entgegen aller Vereinbarungen jemand anderes die Zusage vor uns bekommen hatte – okay, das ist zwar sehr frech, fanden wir, aber dann hatte es wohl nicht sein sollen.
Wir mussten zwar in wenigen Tagen umziehen, aber Katastrophen, das wussten wir nun, sahen anders aus. Also saßen wir an diesem Nachmittag erneut an unseren Computern und durchforsteten das Immobilienangebot, um eine andere Wohnung zu finden, was nicht so einfach war, wenn man ein paar Ansprüche, aber auch nur ein bestimmtes Budget hat. Also nahmen wir einen Filter nach dem anderen aus der Internet-Immobilien-Suchmaschine heraus: Dann eben keine Badewanne, keinen Balkon. Was sollten wir als Nächstes streichen? Vielleicht den Holzfußboden?
Wir saßen etwas über einer Stunde an unseren Computern, als wir wieder fündig wurden: Altbau, Nord-Neukölln, Hinterhof, in der Nähe des Landwehrkanals. Besichtigung am selben Tag, um siebzehn Uhr. Wir wussten schon, dass man zu solchen Terminen am besten mit der vollen Ausstattung erscheint: mit Bürgschaft, Arbeitsvertrag, Gehaltsabrechnungen, Schufa-Auskunft … Tibors Arbeitsvertrag war allerdings erst an diesem Tag in die Post gegangen, Mietschuldenfreiheitserklärung hatten wir nur eine aus den USA , und Gehaltsabrechnungen waren natürlich noch keine da. Also beschlossen wir, ohne Papiere auf die Besichtigung zu gehen, mit nichts als mit meinem nun schon gut sichtbaren Babybauch in petto.
Als wir die Wohnung sahen, wussten wir sofort, dass das unsere Wohnung ist: ruhig, hell, große Räume, schöne Dielen, Badewanne. Wir sagten der Vermieterin sofort, dass wir hier sehr gerne wohnen würden – natürlich wie ein paar andere Pärchen auch. Uns blieb also nichts anderes übrig, als genauso wie diese gleich am nächsten Tag eine Mappe abzugeben. Stundenlang saßen wir abends, um die Unterlagen fertig zu machen. Wir wollten herausstechen aus all den 08 / 15 -Klarsichthüllen und kauften eine hochwertige Mappe, machten Fotos von uns im Automaten, formulierten ein nettes Anschreiben, fügten schöne Kopien von allen Dokumenten bei. Wir legten uns ins Zeug, so gut wir konnten, und wir konnten das gut, weil wir wieder frei waren im Kopf, weil unser eigentliches Problem gelöst war. Die Frage war beantwortet.
Abends schrieben wir den Text, der diese Frage auch für die Menschen in unserem Umfeld beantwortete, die so lange auf ein Lebenszeichen von uns gewartet hatten. Wie viereinhalb Wochen zuvor auch informierten wir unsere Familien per Brief, während wir unsere Freunde per E-Mail aufklärten:
Liebe Familie, liebe Freunde,
danke, dass Ihr unserer Bitte nachgekommen seid und gewartet habt. Wir haben keine guten Nachrichten, nur mehr Details und – nach der Bedenkzeit, die wir hatten – nun auch unsere Entscheidung, zu der wir zwei gemeinsam gekommen sind. Unser Sohn Julius Felix wird mit großer Wahrscheinlichkeit entweder bei oder kurz nach der Geburt versterben. Er hat eine sogenannte occipitale Encephalocele (ein Loch im oberen Halswirbelbereich direkt am Kopf), durch dieses Loch sind Teile
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