Viereinhalb Wochen
lassen. Es gab – und gibt – kein »falsch« oder »richtig«. Frau Fricke hat uns bestätigt, dass wir uns wie selten ein Paar intensiv und schonungslos mit allen Facetten auseinandergesetzt, dass wir kein Blatt ungewendet gelassen haben – dass wir sämtliche Gefühle, Optionen, Gedanken miteinander durchlebt und durchgearbeitet haben – so dass wir zu einer gereiften Entscheidung kommen konnten. Wir haben nun eine Entscheidung getroffen, zu der wir beide hundertprozentig stehen, über der wir beide diesen tiefen Frieden mit Gott haben. Dieser Frieden, der unser Ankerpunkt sein wird für all die kommenden Momente, in denen wir zweifeln, verzweifeln und alles in Frage stellen. Dann heißt es: Zurück zu diesem tiefen Frieden. Dort wieder ankommen, zur Ruhe kommen. Vergewissern. Neu durchstarten. So machen wir es seit fünf Jahren in unserer Ehe. So haben wir es mit jeder wichtigen Entscheidung gemacht.
Als ich das Tagebuch zuklappte, atmete ich auf. Ich setzte mich an den Computer, um eine Mitfahrgelegenheit für die nächsten Tage zu suchen. Endlich konnten wir wieder zu meinen Eltern fahren, zu meinen anderen beiden Geschwistern. Endlich wieder sprechen, erzählen, umarmen.
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Kleiner Klopfer
M ein Bäuchlein war nun schon gut zu sehen. Ich hinterließ bei allen, die mich so sahen, einen gesunden und rosigen Eindruck, wie mir immer wieder versichert wurde – jedenfalls wirkte ich nicht, als würde ich ein todgeweihtes Baby in mir tragen. Ich war eine stolze Mutter, eine schöne Schwangere, auch wenn ich andere Schwangere mied, so gut es ging: Ich war nicht beim Schwangerenpilates, und ich nahm an keinem Schwangerenschwimmen teil. Was hätte ich auch besprechen sollen mit den anderen werdenden Müttern? Wie groß mein Baby schon sei, wann der Geburtstermin sei und welches Krankenhaus ich für eine tolle, sanfte Geburt in die engere Wahl gezogen hätte? Ich könnte keiner dieser Mütter erklären, dass mein Baby zwar völlig wohl gebildet war, aber einen zu kleinen Kopf hatte, aus dem Gehirn und Rückenmark austraten. Ich könnte ihnen nicht sagen, dass mein Geburtstermin gleichzeitig das Todesdatum meines Kindes sein könnte und dass ich das Krankenhaus allein nach dem Kriterium ausgesucht hatte, meinem Kind die Möglichkeit zu bieten, dort friedlich sterben zu können. Es schmerzte mich jedes Mal, wenn mir eine glückliche oder auch abgespannte Mutter ein Neugeborenes im Kinderwagen entgegenschob oder wenn mir an der von blühenden Bäumen gesäumten Kastanienallee einer der zahlreichen Väter mit vor die Brust geschnalltem Baby entgegenkam. Besonders bei diesem Anblick senkte ich sofort den Blick, um meine Tränen zu verbergen – weil ich wusste, dass mein Mann nie so mit Julius unterwegs sein würde. Weil ich wusste, dass er nichts auf der Welt lieber getan hätte als genau das, und weil ich wusste, dass es ihm bei einem solchen Anblick genauso das Herz zerriss wie mir.
Das war die dunkle Seite dieser Medaille. Wir wussten aber beide, dass unsere Situation bittersüß war, denn es gab auch eine helle Seite: Was uns durch diese glückseligen und gleichzeitig betrübten Schwangerschaftswochen hindurch trug, war das tiefe Wissen, dass ich genauso wie Tibor meinen Frieden mit unserer Entscheidung gefunden hatte. Ein Frieden, der durch nichts gestört werden konnte. Ein Frieden, auf den wir uns zurückfallen lassen konnten, wenn ich zum Beispiel im Drogeriemarkt Spülmittel kaufte und mich einen Augenblick später im Gang mit den Babysachen wiederfand, den Tränen nahe. Wenn ich an das dachte, was mir bevorstand – an das Begräbnis meines eigenen Kindes. Wenn ich an der Mütterrunde am Spielplatz im Park gleich neben unserem Haus vorbeikam. In alledem fanden wir uns beide in tiefer Ruhe, wenn auch in tiefer Traurigkeit. Wir genossen die Schwangerschaft in vollen Zügen. Da waren Momente, in denen ich realisierte, dass ich mein Kind wirklich austragen würde. Die dauerten manchmal nur Sekunden und fühlten sich an wie Geistesblitze:
Ja, ich trage unseren ersten Sohn unter meinem Herzen. Ich bin Mama, Tibor ist Papa. Das kann uns keiner nehmen. Wir sind nun endlich eine kleine eigene Familie – auch wenn wir uns vieles so anders vorgestellt hatten.
Manchmal musste ich auch mit Schaudern daran denken, wie die Reaktionen meiner Umgebung ausgefallen wären, hätte ich mich für eine Abtreibung entschieden. Ich wusste, dass ich dann von vielen Leuten aus unserem Bekanntenkreis ausgegrenzt
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