Viereinhalb Wochen
umarmt!
Alles Liebe
Deine Susanne
Susel hatte uns eine Kerze in die WG geschickt, für Julius. Auf der stand ein genauso klares wie nicht zu leugnendes Statement:
Julius Felix – du bist ein Kind Gottes
Wieder saß ich weinend da, dankbar für so großes Mitgefühl, so große Herzen in unserem Freundeskreis.
Manche antworteten dagegen gar nicht, sondern schwiegen – vermutlich, weil ihnen keine passende Reaktion eingefallen war, was ich zu akzeptieren versuchte, auch wenn es mir bis heute schwerfällt.
Dann kam das langersehnte Telefonat mit meiner Mutter, einen Tag später, weil wir ihr die Nachricht als Brief geschickt hatten. Tibor und ich hatten zuvor spontan beschlossen, am nächsten Wochenende in die Oberlausitz zu kommen. Meine Mutter war sehr froh, dies am Telefon zu hören. Sie war über die Nachricht im Brief schwer bestürzt: Sie hatte schon befürchtet, dass unser Kind behindert ist, dass es vielleicht das Down-Syndrom hat wie ihr jüngster Sohn – aber damit, dass es vielleicht schon vor der Geburt sterben wird, dass ihr erstes Enkelkind nicht leben wird, damit hatte sie nicht gerechnet. Ich musste ihr bereits am Telefon vieles erklären, beide mussten wir bitterlich weinen, und trotzdem empfand ich es als ungeheuer erleichternd, das Schweigen endlich auflösen zu können. Noch im Nachhinein dachte ich darüber nach, ob dieses Schweigen richtig oder ob es zu egoistisch gewesen war, doch je länger ich bei dem Gedanken blieb, desto klarer wurde mir, dass ich nicht anders hätte handeln können. Ich wusste, dass wir die Entscheidung ohne das Schweigen niemals so hinbekommen hätten.
Plötzlich konnte ich wieder schreiben. Viereinhalb Wochen lang hatte ich mein Tagebuch nicht zur Hand genommen, seit wir die infauste Diagnose bekommen hatten, war es unberührt geblieben. Doch nun floss es mir aus der Feder, als wäre auch diesem Büchlein gegenüber ein Schweigebann gebrochen:
17 . Juni 2011
Die Worte wollen kaum aufs Papier. Wir werden austragen. Nicht abbrechen. Julius Felix wird, solange er mag, in mir, bei uns sein.
Diese Sätze konnte ich vorher nicht aufschreiben, weil ich Angst vor ihnen gehabt hatte. Doch auch das Gegenteil hätte ich nicht aufzuschreiben gewagt. Sobald ich die Worte schwarz auf weiß vor mir sah, bedeuteten sie mir alles. Das waren die Sätze meiner Befreiung, die ich nun selbst immer wieder und wieder lesen musste, voller Staunen und Erschütterung, und voller Freude, bis ich endlich weiterschreiben konnte:
Stand heute gehen wir davon aus, dass Julius spätestens kurz nach der Geburt zu Gott zurückkehrt – und bis dahin wollen wir jeden Moment für ihn wunderschön gestalten und mit ihm genießen.
Hinter uns liegen die viereinhalb schlimmsten, intensivsten, erschütterndsten Wochen unseres Lebens. Mit nichts vergleichbar.
Wir sind noch in derselben Woche ans Meer gefahren für fünf Tage, haben stundenlang Arm in Arm weinend verbracht, haben ebenso lange Stunden an die Decke gestarrt, leer und gefühlstaub.
Wir haben jeglichen Kontakt zu allen Freunden und Familie untersagt. Nur Susel, Kluttzens, Bastian und die WG wussten Bescheid. Sonst niemand.
Hier sind meine Ankerpunkte, -worte, -momente, die dazu geführt haben, dass ich mich letztendlich für das Austragen entschieden habe:
Am Tag der Diagnose, noch in der Praxis von Prof. Chaoui, waren meine einzigen Worte: »Gott, bitte heil ihn oder hol ihn.«
Am Meer »God, can you not please take him back?« – »Am I not already preparing you for it?«
Ein Poster in Berlin, das meinen Blick streifte: »Gib die Richtung vor. Schwimm gegen den Strom.«
Noch vor der Fahrt ans Meer: »Lasst die Finger davon. Steht mir nicht im Weg. Haltet Euch raus und lasst mich machen.«
In der einzigen Gebetszeit, die Tibor und ich hatten, um spezifisch Gott zu suchen hinsichtlich einer Ansage, ob Austragen oder nicht, habe ich mich erst bei Gott für meine teilweise Hartherzigkeit entschuldigt und dann bei Julius – dann kamen die zwei prägenden Sätze aus mir heraus, die seitdem (letzte Woche) unser Mantra sind: »Du bist unser Wunschkind, bist gewollt« und »Du wirst immer unser erster Sohn sein«.
Des Weiteren hatte Tibor mehrere Male den Eindruck, dass alles gut werden würde, dass er Frieden über dem Austragen hatte.
Wir haben schonungslos alles dem anderen mitgeteilt, mochte es noch so morbid oder krass klingen. Wir waren offen und ehrlich, haben einander getragen und die Emotionen des anderen stehen
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