Viereinhalb Wochen
gewesen wäre. Dann hätte ich bei etlichen dieser Schulterklopfer verloren, die mich jetzt mit E-Mails bombardierten: »Super, eure Entscheidung, gratuliere …« Manche dieser »Solidaritätsadressen« bereiteten mir richtig Angst. »Wenn Ihr wüsstet«, musste ich denken, »durch welche Höllen wir gegangen sind! Wenn Ihr wüsstet, wie schlimm manche Stunde, mancher Tag für uns ist!« Gleichzeitig war mir klar, dass diese Leute keine Ahnung hatten, was uns nun erwartete. Was wir noch durchstehen müssten. Sie wussten nur eines sicher: dass sie nichts mit unserem Kind, mit unserer Situation, mit unseren Schwierigkeiten zu tun haben würden. Sie wussten genau, dass sie in ihren E-Mails von Schuhen sprachen, die sie niemals würden tragen müssen – was sie deshalb auch leichtfertig darüber sprechen ließ.
In solchen Wechselbädern der Gefühle fuhren Tibor und ich in die Oberlausitz auf den Reiterhof meiner Eltern. Wir erwischten ein prächtiges Frühsommerwochenende, die Natur stand in sattem Grün. Wir saßen draußen, aßen einen wunderbaren Braten mit vielerlei Gemüse und Beilagen, die meine Mutter perfekt wie immer zubereitet hatte. Ich fand es erstaunlich, dass wir einander nun so lange nicht gesehen hatten, dass in der Zwischenzeit so viel passiert war, dass ganze Welten zusammengebrochen waren in dieser Zeit und dass ich trotzdem nicht viel reden musste. Meiner Mutter reichte es völlig, dass wir da waren, dass sie mich sehen, mich umarmen konnte – dadurch wusste sie ohnehin, wie es um mich stand. Ihr genügte es, dass ich die Ereignisse der vergangenen Wochen in groben Zügen erzählte. Sie sprach an diesem Wochenende viel von meinem kleinen Bruder Justus, wie es war, als sie von seiner Behinderung erfahren hat. Auch sie hatte eine unangenehme Erinnerung an eine humangenetische Beratung, nach der sie gedacht hatte, dass es kein Wunder wäre, wenn sich eine Erstgebärende an ihrer Stelle Hals über Kopf für eine Abtreibung entschieden hätte. Einer der Ärzte hatte ihr damals prophezeit, dass Justus wohl einen offenen Rücken hätte – ein Irrtum, wie sich später herausstellen sollte. Ein anderer Arzt hatte ihr eine Fruchtwasserpunktion angeboten – beim damaligen Stand der Technik noch eine riskante Untersuchung, deren Gefahren durch nichts zu rechtfertigen waren, zumal sich meine Mutter ohnehin längst entschieden hatte, ihr Kind auszutragen.
So war meine Mutter mehr als froh über unsere Entscheidung. Sie sagte uns aber auch, dass sie eine Abtreibung gut verstanden hätte – immerhin war ihr klar, dass die Behinderung von Justus viel weniger schwer wog als die unseres Sohnes Julius. Ich dankte ihr für ihr Verständnis und ihre Einfühlsamkeit. Sie erzählte uns auch, dass sie mehrmals drauf und dran gewesen sei, sich ins Auto zu setzen und nach Berlin zu kommen, weil es ihr fast das Herz zerrissen habe, ihre Tochter in einer so schrecklichen Situation zu wissen, ohne ihr beistehen zu können.
Ich verstand ihre Gefühle gut, war aber froh, dass sie das nicht getan hatte. Ich war froh über den Einklang, den wir als Mutter und Tochter nur deshalb miteinander haben konnten, weil wir uns in der schwierigsten Zeit eben nicht aneinander hatten reiben müssen. Ich bin nicht sicher, ob ich die Kraft gehabt hätte, zu meiner Trauer auch noch die Trauer meiner Mutter mitzutragen, was bei einem Zusammensein während dieser Wochen sicherlich passiert wäre. Ich hatte gerade noch die Kraft für mich, für Julius und für meinen Mann, aber für niemanden sonst.
So wurde unser Wochenende in der Oberlausitz angenehm ruhig, mit kurzen Gesprächen, langsamen Spaziergängen und stillem Zusammensitzen im Wohnzimmer, wobei immer wieder dem einen oder anderen die Tränen kamen. Als ich am Samstagmittag nach dem Essen allein auf dem Bett im Gästezimmer lag, war ich ganz bei mir, friedlich, glückselig, mit unserem Julius schwanger zu sein. Ich redete mit ihm und erklärte ihm, dass ich mich ein bisschen hinlegen wollte, um zu entspannen. Plötzlich musste ich innerlich aufhorchen: Hatte jemand angeklopft? War da ein kleines Klopfen in meinem Bauch gewesen?
In dem Moment kam Tibor zur Tür herein. Ich bedeutete ihm sofort, still zu sein, und winkte ihn wortlos zu mir her. Er hatte keine Ahnung, was los war.
»Hand! Hand! Hand!«, flüsterte ich ihm aufgeregt zu aus Angst, ich könnte die von mir gespürten Bewegungen durch allzu lautes Sprechen vertreiben.
Geduldig, aber immer noch ahnungslos reichte er
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