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Viereinhalb Wochen

Viereinhalb Wochen

Titel: Viereinhalb Wochen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Bohg
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hatte: Was, jetzt schon? Gleichzeitig konnte sie nicht fassen, wie ruhig Tibor gesprochen hatte, wie entspannt und friedlich. Da seien nicht nur wir drei im Raum gewesen, dachte sie, da war auch noch eine Horde von Engeln dabei. Susel hatte eine fast zur Gänze durchwachte Nacht vor sich, voller Beten und Bangen, dass das Kind lebendig auf die Welt komme und wir noch Zeit hätten mit ihm. Sie sandte noch eine SMS :
    Wir wünschen euch so gut es eben geht eine gesegnete und friedliche Nacht. Oskar hat heute Abend auch für seinen Freund Julius gebetet. Wir denken an euch und beten.
    Nach etwa einer Stunde war Schichtwechsel, und eine neue Hebamme kam an mein Bett. Sie sollte mein Kreißsaalengel werden, der mich durch die Geburt bringen sollte. Eine warmherzige und resolute Frau, mit zwanzig Jahren Berufserfahrung. Sie war perfekt für mich.
    »Ich bin Hebamme Annette. Ich habe den Geburtsplan durchgelesen. Ich weiß Bescheid. Wir kriegen das zusammen hin.«
    Das war ihre knappe und liebevolle Begrüßung, die mir so wichtig war. Ich musste nichts erklären zwischen zwei Wehen, am Rande der Erschöpfung.
    »Ich habe noch eine zweite Gebärende, die Kreißsäle sind alle voll«, sagte sie, bevor sie mich untersuchte und zu ihrer zweiten Patientin hinüberging. Ich konnte die Schreie der anderen Frauen hören und wunderte mich noch.
    »Es tut schon weh«, dachte ich, »aber so …?!«
    Bald kamen die Wellen meiner Schmerzen in noch knapperer, steilerer und auch härterer Abfolge, nun lag wohl nicht einmal mehr eine Minute zwischen zwei Wehen. So ging es bis Mitternacht, als alle dreißig Sekunden eine harte Woge Schmerz in mir aufbrandete.
    »Hand!«
    Bei jeder Wehe brauchte ich nur dieses eine Wort zu sagen, und Tibors rechte Hand umschloss sofort meine linke, so dass ich einen Teil meines Drucks in sie hineinströmen lassen konnte. Ich erinnerte mich an einen Rat von Suse: »Jede Wehe kommt nur ein Mal. Wenn du eine Wehe veratmet hast, hast du sie hinter dir. Die kommt nie mehr wieder.« Diese Aussage half mir sehr! Durch alle Schmerzen hindurch wusste ich, das war nun eine weitere Wehe, die hinter mir liegt und die mich meinem geliebten Sohn ein Stück näher gebracht hat.
    Nach Mitternacht kamen die Wehen fast ohne Pause. Ich war erschöpft. Die Hebamme gab mir ein krampflösendes Mittel, aber sonst keine Medikamente, so wie ich es im Geburtsplan geschrieben hatte. Ich fühlte mich jetzt unsicher ob der Heftigkeit der Wehen.
    »Geh nicht mehr weg, bitte«, flehte ich sie an.
    »Ich bin sofort zurück. Versprochen!«, sagte sie.
    Als sie gerade gehen wollte, musste ich mich mehrfach übergeben. »Das ist in Ordnung. Ein Zeichen dafür, dass die Wehen gut sind«, sagte sie.
    Dann musste sie wieder zu der anderen Frau hinüber. In den benachbarten Gebärzimmern wurde es immer ruhiger. Plötzlich hörte ich ganz nah ein Baby schreien, das musste das Neugeborene von Annettes anderer Mutter sein. Ich ahnte instinktiv, dass ich bei meinem Baby keinen Schrei hören würde, und doch freute ich mich für die andere Mama und wunderte mich gleichzeitig über mich. Ich dachte an die Erdbeere, unseren ersten Namen für Julius. Unsere Erdbeere! Damals schon war mir klar, dass Tibor und ich diese Nacht, in der wir uns nun befanden, so intensiv erleben würden wie keine andere. Wir lebten mit Haut und Haaren, wir waren so wach und da und eins wie nie.
    Annette kam von der anderen Frau zurück. Diese hatte entbunden, nun konnte Annette bei uns bleiben. Ich war so froh darüber. Ich begann zu zittern vor Schmerz und Anspannung.
    »Sollen wir dir eine PDA legen?«
    PDA steht für »Periduralanästhesie«, eine lokale Betäubung der Nerven durch eine Punktion an der Wirbelsäule, die zu einer Lähmung des gesamten Rücken- und Beckenbereichs führt. Doch das wollte ich nicht. Ich wollte die Geburt ohne Betäubung erleben und schüttelte den Kopf.
    »Mensch, du bist so erschöpft, wenn das noch länger geht …«
    »Wie weit sind wir denn?«
    »Also: Von insgesamt dreitausend Metern hast du zweitausendsiebenhundert geschafft.«
    Ich musste lachen. Das waren Zahlen, und mit Zahlen kann ich etwas anfangen. In mir frohlockte die Betriebswirtin, die ich nun mal bin. Annette hatte, ohne es zu wissen, genau das richtige Vokabular gewählt.
    »Dann mache ich so weiter, das schaffen wir jetzt auch noch«, sagte ich und lachte Tibor und Annette an.
    Annette versuchte mich weiter zu ermuntern: »Lass das Kind los!«
    »Ich will es gar nicht

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