Viereinhalb Wochen
Schlaf war nicht zu denken. Um sechs Uhr morgens kam Annette herein, um sich zu verabschieden, es war der nächste Schichtwechsel. Sie setzte sich zu uns, weinte mit uns, bewunderte mit uns den Kleinen.
Danach brachte uns eine Kollegin von ihr ein Stockwerk tiefer, von der Geburtsstation auf die normale gynäkologische Station. Dort bekamen wir ein Einzelzimmer in einer ruhigen Ecke, gleich neben dem Schwesternzimmer. Alle wussten Bescheid, alle gingen vorsichtig und mitfühlend mit uns um.
»Sie nehmen sich bitte alle Zeit dieser Welt«, sagte eine Schwester.
Alles war vorbereitet: In dem Einzelzimmer stand schon ein zweites Bett für Tibor. Wir schoben die beiden Betten zusammen, damit wir beide nebeneinander bei dem Kleinen liegen konnten. Außen an der Tür war ein Schild angebracht, auf dem stand, dass keiner ohne vorhergehende Anmeldung im Schwesternzimmer zu uns hereinkommen durfte. Dieses Zimmer sollte für die nächsten zwölf Stunden unsere Welt sein.
Morgens kam das neue Team zu uns ins Zimmer, ganz andächtig. Alle wollten Julius sehen. Das empfanden wir nicht als Störung, sondern es freute uns. Es war schön, dass sie sich für unser Kind interessierten, schließlich waren das die einzigen Menschen, die wir nun um uns hatten. Die Geburt war viel zu plötzlich gekommen, als dass wir darüber hätten nachdenken können, ob wir unsere Mütter oder meine Geschwister hätten nach Berlin und in die Klinik holen sollen.
Ab acht Uhr morgens fühlte ich ein Kribbeln in den Beinen, ich konnte sie nach und nach wieder bewegen. Bald konnte ich wieder aufstehen, mich umziehen, mir das Gesicht waschen, die Zähne putzen. Wir baten eine Schwester, den beiden Chefärzten Bescheid zu sagen und die Zimmernummer mitzuteilen, falls diese vorbeikommen wollten. Tatsächlich stand bald Dr. Abou-Dakn bei uns, um sich den Kleinen anzusehen. Es war, als würde er für einen Moment in einen Kokon eintreten, der sich um uns drei gebildet hatte. Er beglückwünschte uns zu unserem Sohn, und wir dankten ihm. Wir wollten kein Mitleid, kein Beileid, das spürte er.
»Ich freue mich auch auf die Geschwister von Julius«, sagte Dr. Abou-Dakn, »jetzt schon. Sie sind bei uns jederzeit willkommen, mit jedem Kind.«
Einige Zeit danach kam Frau Dr. Schmidt, die Chefärztin der Kinderklinik.
»Darf ich ihn mal sehen?«, fragte sie vorsichtig.
Sie nahm den Kleinen auf den Arm und besah ihn sich genau.
»Ooch, ist der süß«, meinte sie, trotz allem, was sie über unser Kind wusste, über seine Krankheit, sein Schicksal. »Na ja, ich bin Neonatologin«, fügte sie erklärend hinzu.
Sie machte auf unseren Wunsch noch ein Foto von uns dreien, dann wandte sie sich abrupt zum Gehen. Sie hatte eine Spur von Tränen in den Augen und war bewegt, aber das wollte sie uns nicht unmittelbar zeigen. Als erfahrene Chefärztin hat sie sicher schon viel Leid gesehen, hatte sich aber zusammen mit ihrem Team neben der Professionalität doch einen einfühlsamen Umgang bewahrt. Es wundert mich nicht, dass die Kinderklinik des St. Joseph Krankenhauses als erstes Kinderkrankenhaus der Welt das von der WHO und der Unicef zertifizierte Prädikat »Babyfreundliche Kinderklinik« verliehen bekommen hatte.
Einmal kam eine Schwester, um uns etwas zu essen zu bringen, aber keiner von uns hätte einen Bissen heruntergebracht. Eine Ärztin kam, um mich noch einmal durchzuchecken. Sie fragte mich, wie ich abstillen wolle. Ich entschied mich für das medikamentöse Abstillen, immerhin hatte mein Körper bis jetzt wunderbar mitgespielt, nun wollte ich es ihm so einfach wie möglich machen, weil mir die bald einschießende Milch wahrscheinlich sonst Schmerzen und Probleme bereitet hätte, ohne Säugling. Eine andere Schwester kam mit den Papieren für Julius. Mit dem toten Julius im Arm unterschrieb ich ein paar Formulare und rief im »Garten der Sternenkinder« an. Das wollte ich schon vor der Geburt getan haben, doch dafür hatte die Zeit nicht mehr gereicht.
»Er kommt in die Pathologie, bis ihn der Bestatter abholt, normalerweise«, sagte uns eine Schwester, »aber ich würde ihn an Ihrer Stelle nicht dahin geben, sondern in die Kreißsaalkühlung. Da können Sie immer zu ihm, wenn Sie ihn sehen wollen. Da gibt es keine Öffnungszeiten, Sie können jederzeit zu ihm.«
Das war einfühlsames Mitdenken und Mitempfinden, und es war gleichzeitig ein Schlag: Unser Kind kommt nicht ins Bettchen, sondern ins Kühlhaus. Unser Kind ist tot. Langsam erst fraß sich
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