Viereinhalb Wochen
festhalten, aber ich weiß nicht, was ich machen soll, mit der Atmung. Ich war noch nicht beim Vorbereitungskurs …«
Jetzt musste Annette lächeln. Sie zeigte mir, wie ich atmen soll, zusammen mit den Presswehen. Ich verstand schnell, was sie meinte. Die Schmerzen waren sehr stark, aber ich wusste, sie waren es wert. Die Belohnung würde das Kennenlernen unseres Sohnes sein. Ich konnte nicht anders, als ein bisschen zu schreien, aber ich hielt mich zurück, so gut ich konnte. Ich hatte die anderen Mütter schreien gehört und wollte nicht so laut sein.
»Schrei es heraus«, sagte Annette mir, »wirklich, lass es alles raus.«
Ich zögerte kurz, aber dann war mir wirklich alles egal.
»Okay, dann macht euch jetzt auf was gefasst«, lachte ich.
Die nächste Wehe kam härter, ich schrie lauter.
Die nächste Wehe kam mit unüberbietbarer Kraft, ich schrie aus vollem Hals.
Annette stand vor mir. Tibor hielt meine Hand. Mein Druck ließ nicht mehr los zwischen den Wehen, den Schmerzwellen. Ich wusste, dass ich jetzt am Punkt war.
Jetzt oder nie.
»Ja«, rief Annette, »ich sehe es, das Köpfchen … das Köpfchen!«
Zehn Minuten später war Julius geboren. Am 23 . August 2011 , 00.45 Uhr, im St. Joseph Krankenhaus in Berlin-Tempelhof. Das sind die Koordinaten unseres ersten Sohnes.
Wir alle weinten. Tränen des Glücks und der Erleichterung und der größten Gefühlswelle, in die ein Mensch tauchen kann. Tränen des Unaussprechlichen.
»Oh, ist der niedlich.«
Das war das Erste, was ich hörte, es kam von Annette.
Ich öffnete die Augen und sah mein Kind. Es war wunderschön. Es war ganz klein. Es war perfekt. Es war alles dran. Die Cele am Hinterkopf war viel kleiner als der Kopf. Das Gesicht war nicht verquollen, sondern fein gezeichnet. Julius war so ein wunderschönes Baby. Ich war der glücklichste Mensch der Welt.
Die Hebamme legte ihren Finger auf die Brust von Julius und fühlte. »Hier ist der Herzschlag.«
Mein Herz tat einen Sprung. Julius lebte?
Auch ich legte meinen Finger auf seine Brust, aber ich spürte nichts. Tibor versuchte es genauso, auch er konnte den Puls nicht spüren. Die Ärztin, die bei uns war, hörte Julius mit einem Stethoskop ab. Sie übergab das Instrument mir, dann Tibor. Nun konnten auch wir beide den Herzschlag hören. Wir hielten ein lebendes Kind auf dem Arm. Er weinte nicht, er hatte die Augen geschlossen, er bewegte sich nicht. Aber sein Herz schlug!
Die Hebamme fragte, wer die Nabelschnur durchtrennen würde. Nun war Tibor an der Reihe. Wir hatten vorher abgemacht, dass er das tun würde. Es war eine Geste, der Startschuss ins Leben und gleichzeitig auch in den Tod, denn sobald die Versorgung mit sauerstoffreichem Blut durch diese Leitung ausfiel, befand sich unser Kind in lebensbedrohlicher Gefahr, so die Prognose. Dann war der Kleine auf sich selbst gestellt. Der Schnitt war jedoch unvermeidlich, würde die Schnur früher oder später doch auch von selbst zu pulsieren aufhören.
Nach dem Schnitt legte mir die Hebamme mein Kind auf die Brust. Tibor beugte sich über uns beide. Wir waren eine Familie. Annette machte ein Foto von uns dreien. Dann gingen alle leise hinaus, die Ärztin, die Hebamme und noch eine weitere Schwester. Wir Bohgs waren allein.
Das Fenster stand offen, die warme Luft einer Augustnacht strich um uns. Alles war still. Es war, als hätte Gott in diesen Stunden für Berlin absolute Stille verordnet. Die ganze Welt hielt andächtig den Atem an, so kam es uns vor. Es gab nur noch uns drei.
Ich kuschelte mit meinem Sohn und dachte nur: »Der ist perfekt.« Ich wusste um die Cele, ich sah sie, aber ich dachte nur: »Mein Sohn, mein Julius – du bist so perfekt. Und so schön.«
Das war jedes zweite Wort von uns beiden: »Du bist so schön, Julius.«
Die Zeit stand still. Wieder parkte uns das Leben, wie nach der infausten Diagnose. Wieder waren wir herauskatapultiert aus dem uns nichtig erscheinenden Alltag. Wir waren nur Gedanken und Gefühl, nichts anderes. Wir weinten, bestaunten dieses kleine Menschlein – unser eigen Fleisch und Blut. So perfekt und friedlich musste sich die Ewigkeit anfühlen.
Eine Stunde verging so. Es hätte auch eine Minute sein können oder ein Tag, ich weiß das mit der Stunde nur, weil es Annette sagte. Ich kann mich an nichts erinnern aus dieser Zeit, außer an die Tatsache, dass Julius da war und auf mir lag.
Die Tür ging leise auf, Annette kam vorsichtig mit der Ärztin herein.
»Constanze, wir
Weitere Kostenlose Bücher