Viereinhalb Wochen
müssen dich jetzt noch medizinisch versorgen, okay? Der Papa geht jetzt raus mit dem Julius.«
Eine Vorahnung durchfuhr mich, dass ich Julius nicht mehr lebend wiedersehen würde. Ich dachte aber gleichzeitig, er ist bei seinem Papa, in den besten Händen, die es jetzt für ihn gibt. Ich dachte, ich bekomme einen Anfall, wenn mein eben geborener Sohn schon wieder weg ist, aber es war nicht so. Ganz vorsichtig legte Annette ihn in Tibors Arme und führte ihn hinaus. Ich war noch immer friedlich, noch immer versunken und andächtig staunend über dieses Wunder Julius Felix.
Danach kam ein Anästhesist ins Zimmer. Eine Vollnarkose wollte ich nicht, deshalb sollte er eine Spinalanästhesie machen. Ich hatte das Gefühl, dass ich nüchtern und wach bleiben muss, wegen Julius, ich konnte mir keine Abwesenheit erlauben.
»Sie werden volles Bewusstsein haben, aber sechs Stunden lang nichts merken, vom Becken an. Vielleicht werden Sie Kopfschmerzen haben oder sich übergeben müssen.«
»Das ist mir alles egal, solange ich im Kopf voll da bin. Ich hoffe, Sie wissen auch nachts um zwei ganz genau, was Sie da mit der Spritze in meinem Rückenmark machen. Ich bin Jogger und will weiter laufen können.«
Beide mussten wir lachen, sein Assistent sah mich ungläubig an. Er konnte meine Entspanntheit kaum fassen, das sah ich, doch all meine Angst und Anspannung waren weg. Julius war in besten Händen, das Leben nahm seinen Lauf, ich war versorgt. Alles war gut.
Die Anästhesie wirkte, und so konnte mich die diensthabende Stationsärztin versorgen. Danach rollten sie mich mit dem Bett in einen anderen, kleinen Raum. Sofort danach kam Tibor herein, mit Julius im Arm.
»Lebt er noch?«
Tibor schüttelte nur den Kopf. Tränen liefen ihm über die Wangen, genauso wie mir.
Das war das Erdenleben unseres ersten Sohnes. Gott hatte ihm siebenundzwanzig Wochen in meinem Bauch gegeben und zwei Stunden unter dem friedlichen Himmel einer lauen Berliner Sommernacht.
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Sternenkind
E inzelheiten über die letzte Stunde unseres Sohnes erfuhr ich erst am Tag danach, als Tibor mir alles erzählte: Wie er mit ihm in einem Arztzimmer nebenan sein konnte, auf einer Liege, in aller Ruhe. Tibor hatte sein T-Shirt ausgezogen, Julius lag auf ihm, nackt, geschützt von großen Handtüchern, damit er nicht auskühlte. Tibor sprach mit ihm, er streichelte ihn, er sang seinem Sohn Lieder vor. Nach ungefähr einer Stunde fühlte er, dass Julius eingeschlafen sein musste. Ohne Kampf, ohne Schmerz und ohne Aufbäumen hatte sich der Kleine auf den Weg gemacht.
In regelmäßigen Zeitabständen kam eine Schwester vorbei, um zu sehen, ob alles in Ordnung sei. Als sie das vierte Mal kam, zitterte Tibor am ganzen Körper, zuckte und schluchzte.
»Ich glaube, er ist tot … Ich glaube, seine Seele ist gegangen.«
Die Schwester wollte den Puls des Babys fühlen, doch da war nichts mehr.
»Sollen wir das der Mutter sagen?«, fragte sie mit belegter Stimme.
»Ja, klar«, sagte Tibor, »warum nicht? Er ist gestorben, da gibt es nichts zu beschönigen.«
Damit stand er auf und ging zu mir herüber, zusammen mit Julius und seiner Nachricht. Ich war traurig, aber ich war nicht verzweifelt. Ich war auch nicht überrascht, ich hatte es geahnt. Es war uns so vorhergesagt worden. Aber mir war auch noch nicht richtig klar, dass Julius tot war. Für mich fühlte er sich eher wie neu geboren an.
Wir legten ihn zu mir auf das Bett, Tibor legte sich neben uns, und wir bewunderten ihn weiter. Die Füße, die Nase, die Wimpern. Nicht sattsehen konnten wir uns an diesem kleinen Menschlein. Wir machten unzählige Fotos, wie wir uns das auch vorgenommen hatten, und Tibor nahm mit Hilfe der Hebamme Fuß- und Handabdrücke. Die beiden wogen Julius auch, maßen ihn, und so stand all das in der niedlichen Karte, die wir vom Krankenhaus bekamen:
Ich, Julius Felix, wurde heute am 23 . 8 . 11 um 0.45 in Berlin in der 28 . SSW geboren. Mein Kopfumfang betrug 22 cm, ich war 34 cm groß und habe 800 g gewogen. Ich bin 125 Minuten nach meiner Geburt zum Engel geworden und in den Himmel zurückgeflogen.
Auf deren Rückseite lasen wir ein Zitat aus »Der kleine Prinz« von Antoine de Saint-Exupéry:
Wenn du bei Nacht den Himmel anschaust, wird es dir sein, als lachten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne, weil ich auf einem von ihnen lache. Du allein wirst Sterne haben, die lachen können!
Wieder vergingen die Stunden, ohne dass wir etwas merkten. An
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