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Viereinhalb Wochen

Viereinhalb Wochen

Titel: Viereinhalb Wochen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Bohg
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Sträußlein Blumen.
    Die Adresse lautet:
     
    Alter St.-Matthäus-Kirchhof
    Großgörschenstr. 12 – 14
    10 829 Berlin
     
    Habt Verständnis, dass wir keine formale Einladung verschicken. Wir wollen in den nächsten Wochen jedem persönlich ein paar Zeilen schreiben.
    Danke schon heute für Eure Anteilnahme und Unterstützung.
    Eure drei Bohgs
    Am nächsten Tag fuhren wir zum Friedhof, um eine Grabstelle auszusuchen. Das war einer der absurdesten Momente in meinem Leben, als ich neben Tibor und dem Totengräber die lange Allee in der Mitte des Friedhofs hinaufging, um zum »Garten der Sternenkinder« zu kommen, wie der für Babys reservierte Teil der Anlage heißt. Mir war so sehr übel, dass ich mich am allerliebsten ins Gras am Rande des Weges gelegt hätte und nicht mehr aufgestanden wäre.
    Wir kamen zum ersten Feld mit den winzigen Gräbern, das schon komplett belegt war. Ich war nahe daran zusammenzubrechen und konnte es kaum mehr ertragen, neben dem stillen Mann in seiner schwarzen Uniform zu stehen. Der merkte das offenbar und löste die Spannung mit einer Bemerkung über die Anlage: »Sehen Sie sich mal den Zaun an! Das sind lauter Kinder, die sich alle an den Händen halten.«
    Das rührte mich so sehr, dass mir sofort die Tränen kamen. Ich wusste nun, dass der Mann nicht nüchtern oder geschäftsmäßig mit uns unterwegs war, sondern auch mit uns fühlte. Dann kamen wir zum zweiten Feld, wo Julius beerdigt werden würde. Die Gräber waren nicht in Reih und Glied, sondern wellenförmig angelegt, hinter ihnen stand ein kleines Holzschiff wie auf einem Kinderspielplatz, allerdings mit einem Kreuz darin. Auf den Gräbern lagen Spielzeuge, Kinderbilder und Stofftiere, vor vielen Grabsteinen drehten sich Windräder. Alles war so bunt und wirkte so lebendig, war aber gleichzeitig surreal und unendlich traurig.
    Tibor ging instinktiv zu einer Stelle, neben der schon Kinder lagen, auf beiden Seiten.
    »Was hältst du davon?«
    Mir war so schlecht, dass ich nichts sagen konnte. »Egal«, dachte ich, »schippt auch gleich mich mit Erde zu, ich bin sowieso am Ende. Was habe ich hier noch verloren?« Das dachte ich aber nur und nickte sichtbar zustimmend. So fanden wir unseren Platz für Julius.
    »Zwischen Aurelia und Krümel. Dann ist Julius nicht allein, Schatz«, hörte ich Tibor sagen.
    Danach mussten wir Julius’ Bettchen abholen bei einem Fuhrunternehmen in Rixdorf. Dort fühlten wir uns ins 19 . Jahrhundert zurückversetzt. Hier standen nicht nur Lkws, sondern auch Kutschen und Pferde. Es gab ein Kühlhaus und einen Aufbahrungsraum, der so groß war wie ein Wohnzimmer. Dort sollte die Einbettung von Julius stattfinden, die wir selbst vornehmen wollten. Niemand anderer sollte unseren Kleinen in seine letzte Ruhestätte legen!
    Zuletzt fuhren wir mit dem Sarg nach Hause. Wir hatten vorsorglich eine große Sporttasche mitgebracht, in die das Holzkistchen hineinpasste, denn wir wollten nicht mit einem Kindersarg unter dem Arm in die U-Bahn steigen. Keine Ahnung, wie die Menschen darauf reagiert hätten, entsetzt, abgestoßen oder amüsiert, weil sie das vielleicht für einen Gag hielten – wir waren jedenfalls nicht zu Auseinandersetzungen darüber bereit.
    Überhaupt erzählten wir nur unseren engsten Vertrauten und Verwandten von Julius’ Schicksal – wir hatten das Gefühl, all das noch sehr bei uns behalten zu müssen, weil wir selbst mittendrin steckten. Doch manchmal wusste jemand in unserer Umgebung davon, der nicht engster Freund oder Verwandter war, und es war trotzdem in Ordnung: So hatten wir unserer Vermieterin vom Tod unseres Kindes geschrieben, da sie von meiner Schwangerschaft wusste und sich sonst wohl gefragt hätte, wo denn die Anmeldung ihres neuen Mieters bliebe. Als ich ein paar Tage später vom Einkaufen nach Hause kam, traf ich sie zusammen mit der Hauswartsfrau im Hausflur. Die beiden sahen mich, meine Augenringe, die verheulten Augen. Die Vermieterin kam sofort auf mich zugelaufen und nahm mich einfach in die Arme.
    »Ach, Frau Bohg, kommen Sie her, lassen Sie sich umarmen«, mehr sagte sie nicht, weil nicht mehr zu sagen war.
    Die Hauswartsfrau stand daneben, so mitfühlend wie unbeholfen, und streichelte mir plötzlich zärtlich über den Arm.
    »Hm, ich mach einfach mal so«, flüsterte sie.
    Ich fühlte mich geborgen und verstanden und mit meinem Leid akzeptiert von zwei Menschen, die ich kaum kannte.
    Wir gingen nicht viel raus aus der Wohnung in diesen Tagen, wir trafen

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