Viereinhalb Wochen
mit unserem Sohn.
Noch einmal sahen wir ihn genau an, fotografierten ihn, ja studierten regelrecht jedes Detail von Julius, weil wir wussten, dass das nun das letzte Mal sein sollte, allein mit ihm. Ihn in den Armen zu halten, war das Größte. Ich legte mich neben ihm auf den Tisch, um noch näher bei ihm zu sein, um nichts zu versäumen von dem für mich so kostbaren Anblick. Ich kuschelte mit meinem Sohn. Die Zeit stand still. Tibor und ich wechselten uns ab, mal hielt und wiegte ihn der eine, mal der andere. Wir schwiegen, wir sprachen über ihn, und wir beteten. Wir weinten. Wir wollten keinen Pastor bei diesem Ritual dabeihaben. Es waren uns heilige Stunden, nur wir drei. Unsere Familie. Also las ich selbst aus der Bibel vor, Psalm 139 , Vers 1 – 18 . Ich las stellvertretend für Julius:
Lieber Gott, du hast mich erforscht und erkannt.
Ob ich sitze oder stehe, du weißt es, du kennst meine Gedanken von fern.
Ob ich ruhe oder gehe, du prüfst es, mit all meinen Wegen bist du vertraut.
Noch eh das Wort auf meine Zunge kommt, hast du es schon gehört, Gott.
Von allen Seiten umschließt du mich, ich bin ganz in deiner Hand.
Das ist zu wunderbar, dass ich es begreife, zu hoch, dass ich es versteh!
Wohin kann ich gehen, um dir zu entkommen, wohin fliehen, dass du mich nicht siehst?
Steige ich zum Himmel hinauf, so bist du da, lege ich mich zu den Toten, da bist du auch.
Nehme ich die Flügel des Morgenrots und lasse mich nieder am Ende des Meeres, auch dort wirst du mich führen, und deine Hand wird mich fassen.
Sage ich: »Die Finsternis soll nach mir schnappen, das Licht um mich werde Nacht!«
Auch Finsternis ist nicht finster vor dir, die Nacht leuchtet bei dir wie der Tag, die Finsternis wie das Licht.
Gewiss, du selbst hast mein Inneres gebildet, mich zusammengefügt im Leib meiner Mutter.
Ich preise dich, dass ich auf erstaunliche Weise wunderbar geworden bin.
Wunderbar sind deine Werke, das erkenne ich sehr wohl.
Als ich im Verborgenen Gestalt annahm, kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde, war ich nicht unsichtbar für dich.
Du hast mich schon gesehen, als ich noch ein Embryo war. Und in dein Buch waren sie alle geschrieben, die Tage, die schon gebildet waren, noch ehe der erste begann.
Wie kostbar, Gott, sind mir deine Gedanken! Wie unermesslich ist ihre Fülle!
Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand. Am Ende bin ich noch immer bei dir.
Dein Julius Felix
Nach unserer Zeit im Einbettungsraum hatten wir irgendwann spätnachmittags das Gefühl, dass der Körper nun seine Ruhe haben wollte. Wieder war der Abschied unsagbar schwer. Wieder schoben wir es Minute um Minute hinaus. Noch einmal ansehen. Noch einmal näseln. Noch einmal dicht an Mamas und Papas Herz drücken.
»Halte dich schön, bis Dienstag«, hörte ich mich irgendwann sagen, »die Großeltern wollen dich auch noch sehen. Die Tanten, die Onkel …«
Für manche mag es komisch sein, wenn jemand mit seinem toten Kind spricht, aber ich konnte nicht anders, für mich machte das keinen Unterschied. Es war mein Kind, solange Julius auf dieser Welt weilte, und das hatte er kurz genug getan.
Wir gaben Julius ein weiteres Mal ab.
Wir traten hinaus auf den Hof, in den glühend heißen Berliner Augustabend. Wir setzten uns noch in die Sonne und nahmen den – genauso wie wir selbst auch – seltsam aus der Zeit gefallenen Ort wahr: das alte Pflaster, die Kutschen in ihren Remisen, das Klack-Klack der Pferdehufe, den Geruch der Ställe. Wir waren mitten in der Stadt und doch ganz woanders, an einem Ort, der genauso innehielt wie wir selbst.
Zu Hause sahen wir wieder und wieder die Fotos durch, die wir von Julius gemacht hatten. Ganz langsam ließen wir sie eines nach dem anderen über den Bildschirm wandern, Hunderte, die wir aus den wenigen gemeinsam verbrachten Stunden herübergerettet hatten. Die Trauer kam in Wellen, fast so wie die Wehen, genauso körperlich, wie schwere Wogen, unter denen wir zu ertrinken drohten. Immer wieder bekam ich das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, und doch musste ich jede einzelne Träne weinen, jede dieser brachialen Wogen durchleben.
Wir holten einen Brief von Tibors Mutter aus dem Briefkasten, der uns einerseits das Herz brach, andererseits voller Liebe zu umarmen schien:
Mein lieber kleiner Julius Felix, mein Enkelchen,
ich habe so lange auf Dich gewartet und mich gefreut, Dich zu begrüßen in dieser für Dich neuen Welt, an der Seite Deiner Eltern.
Mich
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