Viereinhalb Wochen
anders ohne Julius, und ich wurde von der ersten Sekunde ständig darauf gestoßen, dass er nicht mehr da war: Wie leicht war das Hinaufgehen in den vierten Stock, und ich hasste diese Leichtigkeit. Ich war nicht mehr schon im zweiten Stock außer Atem, und ich hasste es. Ich stand vor der Wohnungstür, und niemand klopfte von innen an meinen Bauch wegen meines schweren Atems, und ich musste weinen. Ich ging durch die Wohnung, auf und ab und hatte keine Ahnung, was ich nun anfangen sollte. Mir fiel nichts ein, als mich aufs Bett zu legen und zu heulen.
Ich konnte nur ein paar SMS schreiben, um mich für die Wünsche zu bedanken, die ich nach dem Tod von Julius erhalten hatte. Dann legten wir uns ins Bett, weinten, starrten an die Decke, versuchten zu schlafen, weinten wieder.
Später abends kam Tanja vorbei, die Hebamme, die mit uns die Geburtsvorbereitung machen sollte. Für heute war der erste Termin vereinbart. Sie wusste durch meine SMS schon, dass alles vorbei war. Nun saßen wir, statt Atemübungen zu machen, zu dritt heulend auf der Couch und erzählten ihr von der Geburt. Sie kam nun regelmäßig vorbei, für die Nachsorge. Am nächsten Morgen schon untersuchte sie mich und zeigte mir Rückbildungsübungen. Sie weinte mit uns, ohne uns zu bemitleiden, sie bürdete uns nicht ihre Trauer auf. Sie sagte, sie habe es als Geschenk empfunden, Julius in der letzten Woche noch in meinem Bauch fühlen zu dürfen, sein Klopfen gespürt zu haben.
Sobald sie weg war, herrschte Stille bei uns in der Wohnung, Tag und Nacht. Wir sahen uns die Fotos von Julius an, immer und immer wieder. Wir hingen unseren Gedanken nach. Wir sprachen über Julius. Wir weinten. Wir hielten einander im Arm. Wir schliefen. Die Zeit stand noch immer still, und das sollte sich lange nicht ändern.
Erst der Termin mit einer Bestatterin unterbrach diese Routine. Sie wurde uns als Spezialistin für Kinderbestattungen empfohlen, und sie kannte die Ängste und Sorgen von Eltern, die eben ihre Kleinen verloren hatten. Sie kam dankenswerterweise zu uns nach Hause, so dass wir nicht vor die Tür mussten.
Sie sagte: »Sie machen das, was Sie für richtig halten, und ich schaffe den Rahmen dazu. Ich sage Ihnen nur, was sich machen lässt und was nicht.« Das empfand ich mittlerweile als typisch für Berlin, im besten Sinne: Man ist flexibel und lässt die Leute machen, wie sie sich das vorstellen, ohne sie mehr als nötig einzuschränken mit Verordnungen, Verboten und Kontrollen.
Ratlos saßen wir mit ihr über einem Katalog mit Kindersärgen. Ich glaube, das ist das schlimmste Heft, das ich je durchblätterte in meinem Leben. Die meisten Fotos zeigten verzierte, hochglänzende und lackierte Särge. Schon allein das Wort »Sarg« wollte mir nicht über die Lippen kommen, nicht für Julius. »Bettchen« sagte ich immer, »wir müssen ein schönes Bettchen für ihn suchen.« Es dauerte, bis wir eines fanden: aus hellem, unbehandeltem Holz. Das wählten wir aus. In einer Woche schon sollte die Beerdigung stattfinden. Das wollten wir so.
Wieder schickten wir eine E-Mail an unsere Familien hinaus, und an Susel und Suse. Wir vermieden das Wort »Begräbnis« und nannten den Text lieber »Einladung zum Kennenlernen von Julius Felix«, denn das sollte es auch tatsächlich sein: Die uns wichtigsten Menschen kannten unseren Sohn schließlich alle noch nicht, und die Verabschiedung sollte die erste und gleichzeitig letzte Möglichkeit sein, dieses Kennenlernen nachzuholen:
Liebe Familie, liebe Freunde,
wir haben unseren Sohn Julius Felix nicht verloren, er ist uns nur vorausgegangen.
Wir werden nächsten Dienstag, 30 . 08 . 2011 , um 12 Uhr mittags im Garten der Sternenkinder sein, um im engsten Kreise der wundervollen Monate, die wir hier mit ihm auf der Erde hatten, zu gedenken und ihn beizusetzen.
Wir würden uns so sehr freuen, wenn Ihr alle kommen könntet, verstehen es aber auch, wenn es Euch nicht möglich sein sollte.
Wenn Ihr kommt, so sagt uns bitte bis zum Wochenende Bescheid (am besten per E-Mail).
Wir wünschen uns, dass Ihr nicht in trister schwarzer Trauerkleidung kommt, sondern hell und farbenfroh, gerne auch in Jeans – einfach so, dass Ihr Euch wohl fühlt. »Felix« heißt »der Glückliche« – und dessen sind wir gewiss. Unter diesem Motto wollen wir auch diese Feier begehen.
Bitte bringt auch keine Kränze oder typischen »Grabschmuck« (Schleifen etc.) mit – stattdessen lieber eine Sonnenblume oder ein kleines
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