Viereinhalb Wochen
keine Menschen außer die, die wir treffen mussten bei unseren Besorgungen: beim Farbenkaufen im Baumarkt, weil wir den Sarg bemalen wollten, oder beim Versuch, eine Decke zu kaufen, in die wir Julius betten könnten. Selbst diese winzigen Ausflüge kamen uns schon anstrengend und auch grotesk vor: Farben zu kaufen, um den Sarg unseres Kindes zu bemalen! Eine Decke in Läden voller werdender oder gewordener Mütter kaufen, um unseren toten Sohn einzukuscheln! Dabei kamen uns alle Decken viel zu groß vor, zu kratzig oder zu bunt, bis wir letzten Endes unzufrieden mit zwei Moltontüchern davonzogen. Noch immer keine Kuscheldecke!
Anschließend mussten wir ein Paket von der Post abholen, das uns Diana und Rob aus Amerika geschickt hatten – vor drei Wochen, als sie dachten, nun seien es noch ein paar Monate bis zur Geburt. Aufgeregt und gespannt kamen wir mit dem Päckchen nach Hause – was würde darin sein? Wir trauten unseren Augen kaum, als wir sahen, dass uns Diana eine Babydecke geschickt hatte, eine herrlich flauschige, weiche Kuscheldecke. Genau so eine, wie wir sie zuvor stundenlang gesucht, aber nicht gefunden hatten. War das Vorsehung? Telepathie? Natürlich musste ich mich sofort tränenvoll hinsetzen, um den beiden zu danken, ihnen von unserer Trauer zu erzählen – und von dem Wunder mit der Decke:
Heute versuchten wir, eine flauschige Babydecke zu kaufen, aber wir fanden keine – natürlich nicht: Weil Gott sie uns durch euch bereits zugeschickt hatte …
Dann machten wir uns an den Sarg, um ihn für Julius vorzubereiten. Ich dachte, das würde die traurigste Aufgabe überhaupt sein, doch sie war es nicht: Wir saßen beide auf dem Boden unseres Arbeitszimmers, der Sarg zwischen uns, hörten die CD rauf und runter, die uns Diana und Rob geschickt hatten, und bemalten das helle Holz. Ich schrieb »Julius Felix Bohg« auf den Sargdeckel, dann malten wir gemeinsam die vielen Stationen aus dem Leben unseres Sohnes auf das Holz: den Fernsehturm, den wir gemeinsam bestiegen hatten. Den Kuckuck von der Ostsee. Den Kniffelbecher, mit dem wir manche lange Abende in den viereinhalb Wochen unserer Entscheidungszeit zusammen mit meinem Bruder Sebastian verbracht hatten. Das Riesenrad vom deutsch-französischen Volksfest, drei der unzähligen Erdbeeren, die ich in der allerersten Zeit mit Julius so heißhungrig verschlungen hatte. Den Dampfer, mit dem wir gemeinsam auf der Spree unterwegs waren, den Flieger, in dem wir gemeinsam nach Stuttgart geflogen waren, den Strand von der Ostsee, den Hut von Udo Lindenberg, der das wichtigste Requisit bei dem Musical »Hinterm Horizont« war, das wir zusammen mit Julius angesehen hatten. Sechs Stunden lang malten wir das Leben unseres Sohnes auf den Sarg, lachend und weinend und in unseren Erinnerungen schwelgend wie Eltern, die sich an der lange zurückliegenden Kindheit ihres Sohnes erfreuen, immer wieder lachend und wieder weinend. Vor uns hatten wir die Fotokamera auf einem Stativ aufgebaut und machten alle paar Minuten ein Bild vom Fortschritt unserer Arbeit, hatten wir uns doch vorgenommen, das kurze Erdendasein unseres Sohnes zu dokumentieren, so gut es ging. Und nun, das fühlten wir schmerzhaft, war das bald an seinem äußersten Ende angekommen.
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Letzte Vorbereitungen
D er Abschied von unserem Sohn begann bei ebenjenem Bestattungsunternehmen in Rixdorf, bei dem wir das Holzkistchen abgeholt hatten. Wir kamen per U-Bahn mit unserem bemalten Kästchen hin, Julius reiste im Auto des Fuhrunternehmers aus dem St. Joseph Krankenhaus an. Wir hatten Angst vor diesem Termin, weil wir nicht wussten, wie bizarr es sein würde, unseren toten Sohn aus dem Kühlhaus geliefert zu bekommen, ihn anzufassen, ihn in seine amerikanische Kuscheldecke zu hüllen und in den Sarg zu betten, aber sobald wir Julius bekamen, waren die Ängste weg. Wir hatten unser eigenes Fleisch und Blut im Arm, in eine Decke gewickelt, und Julius sah so frisch aus wie direkt nach der Geburt, obwohl er eiskalt war.
Wir konnten fünf Stunden lang allein in einem Raum mit ihm sein, bis abends, solange die Firma ihre Büros geöffnet hatte. Der Raum war extra für Einbettungen und Aufbahrungen eingerichtet. Hier waren wir noch einmal Familie, und bald kam es mir vor wie vor ein paar Tagen im Krankenhaus, in einer Zeitkapsel außerhalb allen anderen Lebens, nur wir drei, die Familie Bohg. Es waren glückliche Stunden mit Julius, so unglaublich das klingt, aber es war so: glückliche Stunden
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